Andrea Breth grübelt über "Hamlet".

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STANDARD: Sie beschäftigen sich zum zweiten Mal hintereinander mit einem merkwürdigen Theater-Prinzen. Nach dem Tatmenschen Homburg spielt August Diehl unter Ihrer Regie den Melancholiker Hamlet. Ein logischer Schritt?

Breth:  Es ist ja oft so, dass man einem Ensemble bei der Arbeit zuschaut, und plötzlich sieht man die Besetzung für das nächste Stück vor sich. "Hamlet" ist ein Text, der einen mit Furcht und Schrecken begleitet. Man fragt sich: Wie alt muss man werden, um sich das zuzumuten? Es war nahezu eine gemeinsame Idee von Diehl und mir in Salzburg, dass wir das machen sollten. Allerdings braucht man dazu nicht nur einen Hamlet, sondern einen König, eine Königin, einen Polonius. Die Entscheidung bestand darin, den "Familienbetrieb" unserer Besetzung weiterzuführen.

STANDARD:  Shakespeares "Hamlet" wird immer rätselhafter, je länger man sich mit ihm beschäftigt. Am Anfang tritt ein dubioses Gespenst auf, Hamlets Vater. Zugleich scheint nicht klar, ob der Vater auch wirklich der leibliche Vater war ...

Breth:  Das wissen wir nicht. Das behauptet John Updike in seinem Roman "Gertrude und Claudius". Was wir sicher wissen, ist, dass Hamlets Vater ein eher kriegerischer Herrscher gewesen sein muss. Claudius, sein Mörder, ist ein Reformator, der Politik auf dem diplomatischen Weg lösen will. Mir ist es ganz wichtig, dass man Claudius platterdings nicht als Usurpator oder Bösewicht ansieht. Er scheint lange zugewartet zu haben, um dann einen "sinnstiftenden" Mord zu begehen.

STANDARD:  Was bedeutet der Auftritt des Geistes?

Breth:  Dazu muss man bestimmte theologische Dinge berücksichtigen. Man weiß, dass Hamlet, so wie Horatio, in Wittenberg auf die Universität gegangen ist. Die beiden sind also definitiv Protestanten. Komischerweise scheint aber der alte Hamlet, der Geist, Katholik zu sein. Er befindet sich daher im "Zwischenreich". Gibt es aber die Hölle, das Fegefeuer? Das Fegefeuer ist eine Erfindung der katholischen Kirche. Flapsig gesagt: Wenn die katholische Kirche eine Höchstbank ist, in die man sich einkaufen kann, dann braucht man sich vor dem Fegefeuer nicht zu fürchten. Die Crux besteht darin, dass Hamlet als Intellektueller an das Fegefeuer nicht ernsthaft glauben kann. Gleichzeitig ist er aber emotional so zerrüttet, dass er es ganz gerne glauben würde.

STANDARD:  Tut Claudius nicht alles, um den Depressiven zu besänftigen? Er sagt zu ihm: "Du stehst meinem Thron am nächsten ..."

Breth:  Das wiegelt die Situation nicht unbedingt ab. Man kann es negativ lesen, wie man das ganze Stück so oder eben auch anders lesen kann. Man muss sich zu einer Lesart durchringen, sonst gerät man in ein heilloses Gestrüpp. Homburg ist ein Täter gewesen, eine Tötungsmaschine. Hier, in "Hamlet", kriegt ein Mensch den Auftrag zu töten und kann es nicht. Das wiederum finde ich nicht rätselhaft. Selbst wenn ich jemanden noch so furchtbar finde, wenn ich ihn gleich umbrächte ...

STANDARD:  Wie bringt man den Geist auf die Bühne?

Breth:  Das werde ich Ihnen vor der Premiere naturgemäß nicht beantworten. Es spielt sich wahnsinnig viel in Hamlets Kopf ab. Am Schluss befindet er, alle Figuren waren Statisten in seinem Leben. Dieses Mit-dem-Theater-Spielen wirft für die Theaterarbeit unendlich viele Probleme auf. Wenn man zwei Prozent von ihnen löst, hat man schon einiges erreicht.

STANDARD:  Was bedeutet die Erscheinung des Norwegers Fortinbras, der am Ende des Stückes den Laden übernimmt?

Breth:  Fortinbras ist eine wichtige Figur. Er erbittet sich den Durchzug durch Dänemark, um zwei Quadratzentimeter Polen einzuheimsen. Er kommt am Ende gerade rechtzeitig in Helsingör an, wenn das entsetzliche Schauspiel vollzogen ist. In meiner Vorstellung klebt der hinter den Dünen und wartet ab, um Dänemark einzusacken. Was dann freilich für eine Zeit anbricht, das möchte ich nicht wissen. Insofern ist diese Figur lebensnotwendig, nicht nur als Spiegel Hamlets, als Mann der Tat. Die Frage lautet: Wie geht das Stück nach Hamlets Tod weiter?

STANDARD:  Hamlet ist der Welt liebster Melancholiker. Zugleich betreibt er Verstellungskunst. Geht der Prinz womöglich seiner eigenen Suggestion auf den Leim?

Breth:  Wenn man sich entscheidet, den Narren oder den Wahnsinnigen zu spielen, kriegt man manchmal nicht mehr die Kurve, um da rechtzeitig herauszukommen. Er wütet aber auch vehement gegen sich selbst: eine völlig zersplitterte Figur. Ich glaube nicht, dass man einen Kern herausschälen kann. Er ist in jeder Situation ein völlig neuer Mensch. Das lässt sich anhand der Monologe belegen, die völlig kontrovers geschrieben sind. Was überdies bei Kindern häufig vorkommt: Er kann nicht ertragen, dass seine Mutter noch einmal heiratet. Er entwickelt einen immensen Frauenhass. Ab einem gewissen Punkt kommen die Politiker in Dänemark seinetwegen zu gar nichts mehr. Claudius kann seinen Staat gar nicht führen, weil er ständig mit diesem Schnösel zu tun hat. "Hamlet" ist für mich ein modernes Stück, weil die Frage lautet: Wer tut denn noch etwas? Rundherum brennt es in der Welt, die ökonomische Situation ist so, dass sich allenthalben Angst breitmacht, auch weil die Bedrohung nicht zu fassen ist. Die Intellektuellen aber tun nichts. Wir privatisieren vor uns hin. Man muss herausfinden: Worin liegt das Heutige? Was tobt in den Gemütern herum?

STANDARD:  Waren die Intellektuellen nicht immer untätig?

Breth:  Im Spanischen Bürgerkrieg hat man sich auch eingemischt. Die Äußerungen waren früher ganz einfach politischer. Das ist verebbt. Als die FPÖ in die österreichische Regierung Einzug hielt, war ja was los in Wien.

STANDARD: Das kann wieder werden.

Breth: Um Gottes Willen. Dann muss man ja emigrieren. Ich meine aber die Resignation. Hamlet gibt sich der Beschäftigung mit dem eigenen Ich hin. Man ist versucht zu sagen: Guck doch mal über den Tellerrand. Warum geht er nicht zurück nach Wittenberg und macht etwas Gescheites? Aber irgendwann muss man als "Hamlet"-Regisseurin die Bücher zuklappen. Sonst wird auch die Demut zu groß. Manchmal muss man sich etwas ganz Banales vornehmen: Ich erzähle jetzt den Krimi "Hamlet"! Die Philosophie kommt dann ganz von selbst.    (Ronald Pohl, DER STANDARD, 21./22.9.2013)