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Therapie erfolgreich, Patient unzufrieden. Zunehmend ist bei medizinischen Entscheidungen Eigenverantwortung gefordert, auch wenn es um die Einschätzung von Therapieerfolgen geht.

Foto: Corbis

Der Ansatz galt als erstklassige Möglichkeit, um viel Leid zu vermeiden: die Myringotomie bei Kleinkindern mit wiederkehrender Otitis media (Mittelohrentzündung). Man macht einen kleinen Schnitt ins Trommelfell und setzt dort ein winziges Röhrchen ein. Je früher der Eingriff stattfindet, desto besser. Die Kleinen hören besser, ihre sprachliche und geistige Entwicklung wird nicht länger durch die Entzündungen behindert. Einfach und effektiv.

Das war offensichtlich eine Fehlannahme. Großangelegte Studien haben mittlerweile gezeigt, dass eine sehr frühe Einpflanzung von Trommelfellröhrchen bei otitisgeplagten Kindern keinen messbaren Effekt auf die kognitiven Fähigkeiten hat. "Man konnte beobachten, wie viele von ihnen buchstäblich aus dieser Phase herauswuchsen," erklärt der Mediziner Vinay Prasad vom National Institute of Health in Bethesda (USA) gegenüber dem Standard. Die frühzeitige Myringotomie hat anscheinend nicht die erhoffte Wirkung.

Auswertung der Studien

Vinay Prasad befasst sich bereits seit Jahren mit dem Phänomen unnützer medizinischer Behandlungen. Solche Verfahren verursachen oft hohe Kosten und sind dadurch eine erhebliche Belastung für die Gesundheitssysteme. Mitunter gefährden sie sogar die Gesundheit der Patienten. "Und die Menschen verlieren das Vertrauen in die Medizin", betont Prasad. Schließlich erreichen die Nachrichten über wirkungslose Medikamente und Operationen nicht nur Fachleute, sondern auch die Öffentlichkeit.

Wie weitverbreitet das Problem allerdings tatsächlich ist, zeigt nun die neue Studie eines US-Expertenteams unter der Leitung Vinay Prasads. Die Wissenschafter analysierten insgesamt 1.344 Forschungsberichte über medizinische Verfahren, publiziert im renommierten New England Journal of Medicine (NEJM) während des Zeitraums 2001 bis 2010, und verglichen deren Ergebnisse vor allem in Hinblick auf regelmäßig angewandte Behandlungsmethoden.

Das Resultat ist beunruhigend. Die Arbeitsgruppe fand 146 verschiedene Fälle von Reversion. Das heißt: Für mindestens 146 gängige Praktiken liegen Untersuchungen vor, die eine positive Wirkung dieser Verfahren praktisch widerlegen. Das entspricht gut 40 Prozent aller 363 getesteten Standardmethoden. Weitere Details wurden unlängst im Fachmagazin Mayo Clinic Proceedings (Bd. 88, S. 790) veröffentlicht.

Keine besseren Heilerfolge

Eines der bekannteren Beispiele offenbar nutzloser Eingriffe sind die häufig durchgeführten Operationen zur Behandlung von Osteoarthritis im Knie. Hierbei wird ein Arthroskop in das Gelenk eingeführt und die Gelenkkapsel von innen ausgespült - zur Beseitigung von losen Knorpelfragmenten und Kalkkristallen. Zusätzlich schleifen die behandelnden Ärzte oft Unebenheiten auf den Knorpeloberflächen ab. Das soll Reibungen und die damit einhergehenden Symptome verringern.

Es gibt allerdings keine eindeutigen Belege für die Wirksamkeit der Prozedur. Im Gegenteil. Einer kanadischen Studie zufolge zeigen sich bei arthroskopisch operierten Osteoarthritispatienten keine besseren Heilerfolge als bei Personen, die nur physiotherapeutisch und medikamentös behandelt werden (vgl.: NEJM, Bd. 359, S. 1097).

Ebenfalls anfechtbar ist der häufig praktizierte Ansatz, Hausstaubmilbenallergie durch das luftdichte Einpacken von Matratzen lindern zu wollen. Ziel ist die Vermeidung von Kontakt mit Allergenen, die die in Bettauflagen lebenden Tierchen ausscheiden, eine logisch nachvollziehbare Idee.

Die Realität scheint jedoch komplizierter zu sein. Niederländische Wissenschafter konnten bei Verwendung undurchlässiger Matratzenbezüge zwar eine Verringerung der Allergenbelastung nachweisen, allerdings keine wesentliche Linderung der allergischen Symptome bei erwachsenen Patienten (vgl.: NEJM, Bd. 349, S. 237). Trotzdem geben Betroffene jährlich noch immer Millionen Euro für die Anschaffung von Spezialbettzeug aus.

Zu den Spätfolgen

Manche zunächst favorisierte Methode erweist sich im Nachhinein sogar als gefährlich. Chirurgen nutzten lange Zeit das gerinnungsfördernde Medikament Aprotinin, um starke Blutungen während und nach Herzoperationen zu vermeiden. Inzwischen wurde im Rahmen mehrerer Studien ein erhöhtes Sterblichkeitsrisiko bei Aprotinin-Verabreichung beobachtet - bis zu 64 Prozent im Vergleich zu anders behandelten Patienten. Vermutlich schadet der Wirkstoff den Nieren. Seine Verwendung lässt jedenfalls die Kreatininkonzentrationen im Blutserum steigen (vgl.: NEJM, Bd. 358, S. 784).

Doch woher rührt die Problematik an sich, warum kommen in der medizinischen Praxis so viele wirkungslose Verfahren zum Einsatz? Der Fehler liegt wohl zumindest teilweise im Bildungssystem, meint Vinay Prasad. "Im Medizinstudium stehen die mechanistischen Wissenschaftsbereiche sehr stark im Mittelpunkt." Man glaubt, über die Funktion der einzelnen Teile das ganze Zusammenspiel verstehen zu können, so der Arzt. 

Miserable Beweislage

Der menschliche Körper und dessen Gesundheit seien gleichwohl viel komplexer. Dementsprechend müssten sich Mediziner viel stärker an den Ergebnissen umfassender, experimenteller und klinischer Studien orientieren. In deren Rahmen zeige sich am zuverlässigsten, was tatsächlich hilft und was nicht. "Praktiken werden aber oft auf der Basis einer miserablen Beweislage übernommen." Mit potenziell weitreichenden Folgen für den Einzelnen und die Allgemeinheit.

Der Trend geht indes in eine andere Richtung. Der politische Druck für eine beschleunigte Zulassung neuer Behandlungsmethoden wächst ständig. "Es gibt viele Akteure, die solche Therapien schneller freigegeben haben wollen", sagt Vinay Prasad. Patientenorganisationen und Ärzteverbände zählen dazu, und natürlich auch die pharmazeutische Industrie. Das alles sind keine guten Aussichten. (Kurt de Swaaf, DER STANDARD, 24.9.2013)