Weg vom Tropf - Anke K. hat ihr normales Leben wieder.

Foto: Klaus Fritsch

Im Zentrum jedes Arztgespräches steht immer das mögliche Ende. Happy End - oder eben nicht? Die Wenn-dann-Dialektik ist Anke K. (34) bestens vertraut. Seit 20 Jahren ist sie Diabetes-Typ-I-Patientin. Dass ihre Bauchspeicheldrüse kein Insulin produziert, ist genetisch bedingt. Wie sie zu leben habe, haben ihr Legionen von Medizinern in Wenn-dann-Szenarien erklärt. So gut sie konnte, hat sich die zierliche IT-Spezialistin mit den großen, wasserblauen Augen auch daran gehalten.

Als Kranke wollte sich die passionierte Bungeejumperin nie sehen, vielmehr ein normales Leben führen, sagt sie. Aber irgendwann ging das nicht mehr, weil ihr Organismus zunehmend unberechenbar wurde. 2010 kam die Diagnose Nierenversagen als Folge der Zuckerkrankheit. Das bedeutete: dreimal die Woche zur Dialyse, für die freiheitsliebende Deutsche ein schweres Los. Mit starker Unterzuckerung fällt sie immer wieder ins Koma und landet auf Notaufnahmen, und irgendwann am Wiener AKH.

Dort trifft sie den Nephrologen Marcus Säemann. Zu ihm fasst sie Vertrauen, und er ist es, der auch das erste Mal konkret über eine Transplantation als Ausweg mit ihr spricht. Nicht nur die kaputte Niere auch die Bauchspeicheldrüse könnten durch Spenderorgane ersetzt werden," wenn das klappt, dann wären Sie keine Diabetikerin und auch keine Dialysepatientin mehr", sagt er ihr Ende des Jahres 2011. Anke K. wohnt in Kärnten, für eine Transplantation müsste sie nach Wien. Sie sagt Ja, und weil sie ohne ihren Computer sowieso keinen Schritt vor die Tür setzt, startet sie ein Krankentagebuch auf Facebook.

Jänner 2012

"Ich hab das unbestimmte Gefühl, dass es nicht klappen könnte", schreibt sie am 14. 1., hofft auf ein Organ, fürchtet sich. Ihr Gesundheitszustand ist prekärer, ihr Name bleibt auf der Warteliste von Eurotransplant.

Mai 2012

Der 8. 5. ist der Tag der ersehnten Nachricht: "Die Orga-ne sind da" (siehe: Reportage im Standard-Album vom 29. 6. 2012). Es folgen dramatische Wochen. Unendlich vielfältige Schmerzen, Hoffen, Stimmungsschwankungen. Notoperationen. Das traurige Ergebnis: Die neue Niere muss wieder entfernt werden, doch die Bauchspeicheldrüse hält durch. Anke K. hatte Pech. "Eine Nierentransplantation ist, chirurgisch betrachtet, keine große Herausforderung", sagt Ferdinand Mühlbacher, Vorstand der Universitätsklinik für Transplantation am Wiener AKH, er und sein Kollege Rudolf Steininger sind die behandelnden Chirurgen einer "schwierigen Patientin".

Die Komplikation, die Anke K. ihre neue Niere kostete, tritt nur bei acht Prozent der Transplantationen auf, zitiert er die Statistik. Schwachstellen seien die Harnleiter, die Niere und Blase verbinden. Bei langjährigen Dialysepatienten sind die Blutgefäße dort verkümmert. Anke K.s neue Niere begann zwar zu arbeiten, doch konnte der von ihr produzierte Urin nicht abfließen. Die Flüssigkeit staute sich zurück.

Mai 2012

In einer Notsituation wurde am 28. 5. ein Abfluss nach außen gelegt, der insofern nicht erfolgreich war, als das Organ diesem Eingriff nicht standhielt, "auch diese Komplikation ist selten", sagt Mühlbacher. Tweety hatte Anke ihre Niere getauft, die drei Wochen nach der Transplantation wieder weg war. Ihre neue Bauchspeicheldrüse, die den schönen Namen Sweety bekommen hat, funktioniert unverdrossen.

"Dabei ist die Transplantation einer Bauchspeicheldrüse ungleich riskanter", erklärt Mühlbacher. Das zuckerregulierende Organ liegt nahe am Herzen, die Blutungsgefahr während der Operation ist hoch. Ein Knackpunkt sei vor allem, eine intakte Verbindung zum Darm und damit zum Verdauungsapparat aufzubauen. Anke K.s Körper nimmt diese Hürde. Kein Insulin mehr. Das ist das vorübergehende Fazit, aber weiterhin Dialyse. Das beansprucht Anke K.s geschundenen Körper, zudem macht ihr ein Zytomegalovirus zu schaffen. Sie bleibt schwach, liegt nur, ist verzweifelt.

Ihre einzige Freude wird das Blutzuckermessen. "Früher musste ich messen und war frustriert, heute muss ich nicht, mach es aber ständig." Es gefällt ihr, dass trotz ihres miserablen Zustandes die Blutzuckerwerte normal sind.

September 2012

"Ich habe die Schnauze voll", sagt sie am 1. 9. zu Marcus Säemann und meint vier Monate AKH ohne Sonne und Freunde. "Ich wollte heim, Säemann hat mir das genehmigt", erzählt sie. Sie laboriert am Virus, hat Fieber und Schüttelfrost. Dreimal die Woche holt sie die Rettung und bringt sie zur Dialyse nach Wolfsberg. Anke K. berichtet Säemann am AKH, schickt ihre Werte und wartet auf Anweisungen aus Wien. Sie wird immer schwächer.

Säemann rät zu einer erneuten Transplantation. Als "Katastrophenzustand" bezeichnet sie ihre Situation, postet düstere Bilder auf Facebook und trägt sich mit Fantasien, eines Tages ganz einfach nicht mehr auf der Dialysestation in Wolfsberg zu erscheinen. Unendliche Müdigkeit, "jeder einzelne Schritt fühlt sich so an, als ob du eine ganztägige Bergtour hinter dir hättest."

Dezember 2012

Nach jeder Dialyse fühlt sich Anke K. noch schlechter. In Wien wissen die Ärzte, dass die Zeit drängt. "Wir wussten, dass unsere Patientin am Ende ihrer Belastbarkeit war", erinnert sich Mühlbacher. Der Zytomegalovirus machte eine Listung zur Transplantation aber unmöglich. Es dauerte bis Anfang Februar, bis der Keim weg war. Jetzt ist der Weg frei für eine High-Urgency-Transplantation. Anke K. entspricht dem Kriterienkatalog.

März 2013

Der Anruf von Eurotransplant erreicht Anke K. am 20. 3. zu Hause. Obwohl sie darauf wartet, ist sie überrascht. "Auf geht's in die zweite Runde," vermeldet sie auf Facebook und macht sich selbst Mut, weil "ich ja keine Alternative habe", sagt sie. Ihre Angst vor den Schmerzen sei genauso groß wie beim ersten Mal gewesen, erzählt sie.

Diesmal operiert Mühlbacher. "Die Patientin und die Situation waren schwierig, aber wir hatten eine Vertrauensbasis", sagt er rückblickend Deshalb glaubte Anke K. Mühlbacher auch, dass die Operation im Vergleich zur ersten viel harmloser ist. "Alle wichtigen Organe sind im Bauchraum, und den öffnen wir diesmal nicht, die Niere liegt außerhalb", erklärt er.

Wie nach der ersten Transplantation beginnt auch diesmal das große Warten. "Erst mal war ich froh, dass meine Bauchspeicheldrüse alles gut überstanden hatte und auch das ganze Cortison, das man bekommt, gut wegsteckte", sagt Anke K. Melitta nennt sie ihre neue Niere, "so wie die Filtertüten" sagt sie und lacht. Tagelang wartet sie auf der Station 20 B darauf, dass ihre neue Niere "endlich anspringt", wie das hier heißt.

"Melitta ist faul, aber die Biopsie sagt, dass mein Körper sie nicht abstößt", schreibt sie bang auf Facebook. Verzweiflung und Galgenhumor wechseln einander ab. "Melitta braucht schönes Wetter, um zu arbeiten", scherzt sie.

April 2013

Dann endlich die Jubelmeldung. "Meine neue Niere hat 500 Milliliter Harn produziert", schreibt sie. Doch der Euphorie folgen plötzlich extrem starke Schmerzen. Anke schweigt auf Facebook, weil sie notoperiert wird. "Wieder lag das Problem bei den Harnleitern, diesmal hatten sie sich verlegt, waren zu, und der Harn wurde in den Bauchraum geleitet, das hat die Schmerzen verursacht", erklärt Operateur Mühlbacher.

Zur Lösung des Problems habe man dann ein Stück Harnleiter weggeschnitten und die Blase versetzt. Wie alles, was Mühlbacher sagt, klingt auch das sehr simpel. Dieser, der letzte Schnitt war allerdings überaus folgenreich. Seit 12. 4. funktioniert Anke K.s neue Niere problemlos, Anke K. muss nicht mehr zur Dialyse. "Die letzte Hürde und eine, vor der mich niemand gewarnt hatte, war die Entgiftung, die durch das neue Organ einsetzte", komplettiert Anke K. ihre Krankengeschichte. Übelkeit, Kopfschmerz und schlaflose Nächte: Die transplantierte Niere arbeitet auf einen Schlag besser als die Dialysemaschinen alle Jahre davor. Sie transportiert die vielen Schadstoffe, die sich im Körper angesammelt haben, ab.

"Es war so etwas wie ein Entzug," beschreibt Anke K. Dann ist auch diese Phase vorbei, "Melitta ist die stationsbeste Niere und produziert Kreatininwerte wie von Gesunden", jubelt sie auf Facebook. Zum erstem Mal ist sie zuversichtlich. "Ich darf trinken, so viel ich will, endlich wieder Latte macchiato", tippselt sie, und "hoffentlich kommen Sweety und Melitta gut miteinander klar". Noch im Krankenbett schmiedet sie Pläne. Einen Job finden, Auto fahren: Die Ärzte bremsen ihre Euphorie.

Mai 2013

Anke K. wird entlassen, beginnt die Rehabilitation in Bad Aussee. "Nur alte Menschen, schrecklich", sagt sie, "aber schon auch gut, weil ich mit den Physiotherapeuten dort ein super Bewegungsprogramm erarbeitet habe". Sie marschiert jeden Tag, beginnt zu joggen und folgt einem Ernährungsplan zum Muskelaufbau.

Juni 2013

Anke K. ist zur Kontrolle im AKH. Sie ist kaum wiederzuerkennen, geht flink durch die Gänge des AKH, so als ob sie nie krank gewesen wäre. Endlich ist sie wieder sportlich und so wie es ihrem Selbstbild entspricht. Ihre Werte sind wunderbar und so, als ob sie es sich selbst beweisen will, dass sie Jahre der Tortur hinter sich hat, zeigt sie die Narben auf ihrem Körper.

"Es war kein leichter Weg, aber es hat sich gelohnt, an den Erfolg zu glauben", sagt Marcus Säemann. Zum ersten Mal seit langer Zeit gibt es in einem Arztgespräch für Anke K. kein schwieriges Wenn-Dann. Sie ist Exdiabetikerin, Exdialysepatientin. Ob sie das alles noch einmal auf sich nehmen würde? "Es war hart" sagt sie, "nach einer Transplantation bist du ein anderer Mensch".

September 2013

Anke K. hat einen Job bei einem Kärntner IT-Unternehmen, hat sich auch für ein Studium inskribiert. "Viele meinen, es ist zu früh", sagt sie, "aber ich will mein Leben nicht als Frühpensionistin fristen, sondern arbeiten, wieder Auto fahren. Deshalb hab ich das doch alles gemacht". (Karin Pollack, DER STANDARD, 24.9.2013)