
Ob Forscher gut finden, was Wissenschaftshistoriker schreiben, ist für Hans-Jörg Rheinberger irrelevant: "Musikschaffende müssen ja auch nicht daran interessiert sein, was Musikhistoriker schreiben."
STANDARD: Sie sind habilitierter Molekularbiologe, wechselten dann aber in die Wissenschaftsgeschichte. Wie haben denn Ihre ehemaligen Kollegen darauf reagiert?
Rheinberger: Ich habe von dieser Seite nie viel Kritik bekommen. Aber das hängt wohl damit zusammen, dass ich lange genug im Geschäft war und ich von den Molekularbiologen immer noch als einer der Ihrigen angesehen werde. Einige haben es aber nicht verstanden, wie ein praktizierender Molekularbiologe auf die andere Seite wechseln kann und finden es wohl etwas schade, was ich da jetzt für Sachen mache.
STANDARD: In Ihren Arbeiten schreiben Sie eine etwas andere Geschichte der Biologie – konkret etwa des Begriffs "Gen" –, die so nicht in den Lehrbüchern steht. Gab es da keinen Widerstand?
Rheinberger: Die Bedeutung der Gene wird ja von den Molekularbiologen längst selbst relativiert, dazu brauchen die keine Wissenschaftshistoriker. Denen zerrinnt der Begriff selbst in der Hand. Überhaupt ist es ziemlich irrelevant, ob die Naturwissenschafter das nun gut finden, was die Wissenschaftshistoriker schreiben. Schriftsteller oder Musikschaffende müssen ja auch nicht interessiert sein, was Literatur- oder Musikhistoriker schreiben. Grundsätzlich halte ich wenig davon, als Wissenschaftshistoriker Einfluss auf die Wissenschaft haben zu wollen.
STANDARD: Worin sehen Sie dann die Bedeutung der Wissenschaftsgeschichte?
Rheinberger: Wissenschaftsgeschichte gehört als eine Art Dauerreflexion genauso zu unserem kulturellen Horizont wie Musik-, Literatur- oder Kunstgeschichte – zumal mittlerweile so viele der lebens- und gesellschaftsverändernden Impulse in unserer Gesellschaft aus der Wissenschaft kommen.
STANDARD: Wird angesichts dieses Siegeszugs der Wissenschaften ihre historische Erforschung nicht immer noch etwas stiefmütterlich behandelt?
Rheinberger: Absolut. Es ist wirklich verwunderlich, warum die Wissenschaftsgeschichte im Vergleich zu diesen anderen Kulturgeschichten wie eben der Musik-, der Kunst- oder Literaturgeschichte so lange ein Schattendasein fristete. Das hängt aber sicher auch mit dem Selbstbild der Wissenschaften zusammen.
STANDARD: Wie meinen Sie das?
Rheinberger: In vielen Bereichen der Wissenschaft herrscht die Ansicht vor, Ende des 19. Jahrhunderts der Religion das Fähnlein der Wahrheit aus der Hand gerissen zu haben und seitdem die Instanz zu sein, die für Wahrheit zuständig ist. Dadurch hat sie sich aber auch in gewisser Weise gegen die Geschichtlichkeit des eigenen Geschäfts immunisiert. Und man empfindet es wohl als Gefahr, auf diese Historizität hingewiesen zu werden.
STANDARD: Könnte es helfen, wenn Wissenschaftsgeschichte Teil der universitären Ausbildung wird?
Rheinberger: Ich finde schon, dass so etwas zu einer universitären Ausbildung zählen sollte, wenn das Wort "universitas" überhaupt noch etwas bedeuten soll. Es gab ja über viele Jahrzehnte diese Verpflichtung – Stichwort Philosophikum –, sich mit dem Universum der Wissenschaften in der einen oder anderen Form zu beschäftigen. Wenn da mehr Wissenschaftsgeschichte vorkommt, würde ich das für eine sinnvolle Sache halten, weil das Gedächtnis der heutigen Naturwissenschaften nicht mehr sehr weit zurückreicht. Die Literatur, die in Fachartikeln zitiert wird, darf im Normalfall gerade einmal ein paar Jahre alt sein.
STANDARD: Könnte mehr Wissen über die Geschichte des eigenen Fachs womöglich auch der Forschung etwas bringen?
Rheinberger: Da bin ich skeptisch. Ich glaube nicht, dass davon viel in die Praxis des Forschens einfließen könnte. Indem man etwas mehr von der Geschichte der eigenen Wissenschaft weiß, wird man noch lange kein besserer Wissenschafter.
STANDARD: In einem Ihrer aktuellen Projekte befassen Sie sich mit der "Systembiologie" und der "synthetischen Biologie". Was interessiert Sie daran?
Rheinberger: Augenfällig ist, dass seit einiger Zeit Begriffe wie Gentechnik oder Genetic Engineering, die aus den 1970er-Jahren stammen, wie vom Erdboden verschwunden sind. Stattdessen redet jeder von synthetischer Biologie oder von Systembiologie. Ich möchte verstehen, ob solche Terminologieumschwünge mit Veränderungen in der Laborpraxis verbunden sind und ob es in den letzten Jahren in den Lebenswissenschaften tatsächlich einen qualitativen Sprung gegeben hat, der diese neuen Begriffe rechtfertigt.
STANDARD: Was ist Ihr bisheriger Eindruck?
Rheinberger: Ich bin mir da nicht so sicher. Bisher sehe ich jedenfalls auf der Ebene der Laborpraxis oder der Beschreibung von Lebewesen keine so tiefgreifenden Neuerungen, die diesen Terminologiewechsel rechtfertigen würden. Vielleicht liegt der Unterschied zur traditionellen Molekularbiologie auch nur darin, dass sich der "Überbau" der Erkenntnisproduktion verändert hat – also wie das Wissen in der Gesellschaft zirkuliert und wie Ressourcen akquiriert werden.
STANDARD: Sehen Sie einen Zusammenhang mit dem Humangenomprojekt, das vor gut zehn Jahren auslief?
Rheinberger: Das könnte gut sein. Viele der Prozesse, für die man vor 20 Jahren noch am Labortisch stand, laufen längst vollautomatisiert ab. Da gibt es zweifellos massive technologische Veränderungen. Aber die gab es auch schon in den 1950er-, 1960er- und 1970er-Jahren. Ein anderer Eindruck ist, dass diese Art der Forschung heute etwas sehr Planbares hat. Aber womöglich ist es immer noch so, dass da, wo das wirklich Neue entsteht, Unwägbarkeiten und Zufälle eine Hauptrolle spielen. Dafür muss man sehen, was die Forscher tun, und nicht, wie sie selbst darüber sprechen. Das würde ich mir gerne direkt in den Laboratorien anschauen.
STANDARD: Wissenschaftsforscher wie Bruno Latour argumentieren ja schon seit langem, dass die ganze moderne Forschung in Technowissenschaften aufgehen würde.
Rheinberger: Ich bin da etwas skeptisch. Wenn alle Grenzen zwischen Forschung und Technologie verschwimmen, dann würde ich jedenfalls in meinem nächsten Leben nicht mehr Wissenschafter werden wollen.
STANDARD: Als einer der Durchbrüche der synthetischen Biologie gelten die Versuche in Craig Venters Labor, eine Art künstlichen Organismus herzustellen, indem man ein künstliches Genom in einer entkernten Zelle zum Funktionieren brachte. Was halten Sie davon?
Rheinberger: Technisch gesehen ist das zweifelsohne eine Errungenschaft, ein Großmolekül aus Millionen synthetischen Basenpaaren herzustellen, das die Funktion der "natürlichen" DNA übernimmt. Aber da stellt sich schon auch die Frage, was das für die Wissenschaft bringt. Wissen wir dadurch mehr? Eher nicht.
STANDARD: Wie sehr könnte die schlechte öffentliche Meinung über die grüne Gentechnik dazu beigetragen haben, dass man nach neuen Begriffen suchte?
Rheinberger: Dieser Aspekt spielt gewiss eine Rolle, wobei ich aber nicht glaube, dass es so einfach ist, bestimmte Begriffe mit Absicht durchzusetzen oder auszutauschen. Das ist viel weniger steuerbar, als man denkt. Interessant ist aber auch, dass der Begriff synthetische Biologie im 20. Jahrhundert immer wieder verwendet wurde. In den frühen 1970er-Jahren etwa, als gentechnische Eingriffe langsam machbar wurden, schlug man ihn auch schon vor. Stattessen hat sich der Begriff Gentechnik durchgesetzt – damals womöglich genau deshalb, weil bei dem Begriff ein gewisses Risiko mitschwingt.
STANDARD: Braucht es insgesamt neue Formen der Regulierung in den Lebenswissenschaften?
Rheinberger: Die große Debatte, die wir in der Molekularbiologie rund um die sogenannte Asilomar-Konferenz 1975 hatten, trug gewiss dazu bei, dass man vorsichtiger war und dass bis heute so gut wie nichts passiert ist. Aber mit der Globalisierung und dem schnellen Wachstum dieser Forschung stellen sich die Fragen der Regulierung immer wieder neu und müssen immer wieder von der Gesellschaft diskutiert werden. Ich würde zum Beispiel für eine weltweite Ächtung des Klonens von Menschen eintreten.
STANDARD: Ein Kontrollproblem besteht womöglich auch darin, dass sehr viel molekularbiologische Forschung heute in privatwirtschaftlich finanzierten Labors stattfindet.
Rheinberger: Das ist richtig. Der Trend geht eindeutig in Richtung neuer Kooperationsformen zwischen Universität und Industrie, wobei die Kooperationspartner meist nicht mehr die klassischen Pharmamultis sind, sondern kleine Start-Ups. Das ist eine Art Parzellierung, die das Risiko nicht kleiner macht, die Kontrolle zu verlieren. Andererseits sind die klassischen Grenzen zwischen interessenloser Wissenschaft und marktwirtschaftlicher Ausbeutung in der Physik oder in der Chemie schon seit dem Ende des 19. Jahrhunderts verschwunden. Nur redet darüber niemand mehr. In der Biologie ist das halt noch relativ neu.
STANDARD: Was bedeutet das für die Zukunft der akademischen Forschung und die Rolle des Staates als Forschungsförderer?
Rheinberger: Langfristig gesehen brauchen wir akademische Räume der Wissenschaft, die gerade nicht in der engen Verkopplung mit potenziellen Anwendungen aufgehen. Ansonsten könnte es passieren, dass der Strom des neuen Wissens versiegt. Ich bin der festen Meinung, dass Grundlagenforschung nach wie vor nach anderen Kriterien stattfindet – nämlich nach anderen als ökonomischen, aber auch nach ganz anderen zeitlichen Kriterien.
STANDARD: In den letzten Monaten gab es im Zusammenhang mit der synthetischen Biologie auch Diskussionen um das sogenannte Biohacking. Junge Forscher basteln quasi zuhause in der Garage an der Natur herum. Eine Gruppe will Bäume gentechnisch herstellen, die in der Nacht leuchten. Kann das etwas werden?
Rheinberger: Wir haben ziemlich begrenzte Fähigkeiten vorherzusagen, was in der Zukunft passiert. Zumal in der Forschung kommt es zumeist erstens anders und zweitens als man denkt. Grundsätzlich stehe ich solchen Sachen eher skeptisch gegenüber. Wer meint, dass man einfach ein paar Reagenzien kauft und damit in der Garage Organismen gentechnisch verändert, unterschätzt das Know-how, das man dafür braucht. Als einzelner kommt man damit schon gar nicht weit, weil diese Forschung in den führenden Labors längst nur mehr in arbeitsteilig organisierten Gruppen passiert.
STANDARD: Wie stehen Sie solchen Biohacking-Initiativen grundsätzlich gegenüber?
Rheinberger: Wenn ich forschungspolitisch etwas zu sagen hätte, dann würde ich mich für eine strikte Regulierung einsetzen. Unsere naturwissenschaftlichen Laboratorien sind ja historisch betrachtet als Orte entstanden, die so etwas wie "containment", also Eindämmung und Schutz boten. Wenn im Labor etwas schief ging, dann war nicht gleich die ganze Gesellschaft von den Folgen betroffen. Solche Eindämmungen halte ich nach wie vor für sinnvoll. Experimentierkästen mit Biomaterial kann ich definitiv nichts abgewinnen. (Klaus Taschwer, DER STANDARD, 25.09.2013)