Mittwoch um sechs Uhr früh standen Abgesandte vom Gerichtshof Shenyang vor der Wohnung von Zhang Jing und ihrer Schwiegermutter. Sie brachten die Frauen zu einem halbstündigen Abschiedstreffen mit Xia Junfeng, dem Ehemann Zhang Jings, der wegen Mordes verurteilt worden war. Der 36-Jährige wartete auf seine Hinrichtung. Auf der Rückfahrt schrieb seine Frau über Mikroblog erste Meldungen über die niederschmetternde Begegnung. Im Internet ertönte zu dem Zeitpunkt längst ein massenhafter Aufschrei: "Rettet Xia vor dem Tod!"
Online-Foren wurden plötzlich zur Plattform für einen makaberen Countdown. Buchstäblich Millionen Blogger aus allen Schichten der Gesellschaft hatten nur einen Gedanken: Sie hofften, dass ihre Rufe um Gnade von Pekings höchster Führung erhört würden und sie die Hinrichtung noch stoppen könnten. Der renommierte Pekinger Politologe Zhang Ming rief zur massiven Unterschriftenaktion auf; "Jetzt ist es der allerletzte Moment, die allerletzte Möglichkeit, um sich einzusetzen. Rettet den Menschen Xia vor dem Fallbeil! Wer einverstanden ist, klickt hier an. Bitte tut es!"
Zehntausende unterzeichnen Gnadengesuch
Chinas Blogger folgten ihm: Bis 9.30 Uhr hatten 500.000 den Aufruf beim Portal "Wangyi" angeklickt und gelesen, 13.000 ihre Unterschrift hinterlassen. Eine Stunde später, um 10.30 Uhr, waren es über eine Millionen Online-Sympathisanten. Mehr als 20.000 unterzeichneten den Gnadenappell. Beim Portal "QQ-Tencent" waren es noch mehr.
Auch der bekannte Pekinger Menschenrechtsanwalt Pu Zhiqiang hatte schon um 7.50 Uhr online geschrieben: "Das Leben von Xia hängt an einem Faden. Ich habe noch nie in einem Justizfall an unsere Führer appelliert. Diesmal mache ich eine Ausnahme. (...) Dürfen wir mit einem Gnadenakt rechnen, damit allen Hoffnung bleibt, dass es in China gleich und gerecht zugeht?"
Pekings Führung blieb stumm. Um 10.45 Uhr teilte das Shenyanger Gericht in dürren Worten mit: "Nach Genehmigung durch das höchste Volksgericht wurde der Mörder Xia Junfeng heute nach dem Gesetz hingerichtet." Während das Online-Publikum im ganzen Land das Geschehen mit Schreckensrufen kommentierte - viele schrieben, dass sie weinten -, begannen die Zensoren die Gnadenaufrufe zu löschen. Auch Zhang Jings Appell verschwand.
Gericht ignorierte Augenzeugen
Der Fall erregt die Öffentlichkeit wie kein anderer. Und das nicht, weil sie den Markthändler Xia für unschuldig hält. Der einstige Industriearbeiter, der in Liaoning von einer Elektrogeräte-Staatsfirma entlassen wurde, hatte mit einem Imbissstand in Shenyang für seine Frau und seinen heute 13 Jahre alten Sohn gesorgt. Im Mai 2009 wurde sein Stand von einem Dutzend sogenannter Chengguan-Marktaufseher überprüft, die als Hilfspolizisten meist brutal für Ordnung sorgen.
Für die Szene, die sich dann abspielte, gibt es neben seiner Frau weitere Augenzeugen. Das Gericht hörte aber keinen von ihnen an, schrieben chinesische Zeitungen. Xia wurde von den Ordnern zusammengeschlagen, als er sich dagegen wehrte, dass sie seine Gasflaschen beschlagnahmten sowie seinen Kochstand und das Zubehör zerschlugen. Seine Frau sah hilflos zu, als sie ihn in ihr Büro verschleppten. Dort sollen sie weiter auf ihn eingeprügelt haben. Sie ahnten nicht, dass er noch ein Messer bei sich trug. Er soll sich plötzlich gewehrt, zwei der Hilfspolizisten erschlagen und einen schwer verletzt haben.
Das Gericht verurteilte ihn im November 2009 zum Tod wegen Mordes. Es hielt an seinem Urteil durch alle Instanzen fest. Am Dienstag wies das Pekinger Appellationsgericht in endgültiger Entscheidung die Einsprüche zurück und wies das Shenyanger Gericht an, das Urteil zu vollstrecken. Vergeblich hatte der Anwalt von Xia auf Totschlag im Affekt und Notwehr plädiert, was mit lebenslanger Haft bestraft wird.
Justiz missachtet eigene Vorgaben für Todesstrafe
Die Sympathien der Öffentlichkeit lagen von Anfang an auf Xias Seite. Chengguan-Schläger hatten seit Jahren wegen brutaler Übergriffe immer wieder für negative Schlagzeilen gesorgt.
Chinas Justiz hatte 2011 erklärt, die Todesstrafe dürfe nur noch bei besonders furchtbaren Verbrechen exekutiert werden; eindeutiger Vorsatz, Wiederholungstaten, gesellschaftliche Folgen oder besondere Grausamkeit seien dafür ausschlaggebend. Nichts von all dem trifft auf Xia zu. Offenbar gehe es den Richtern mehr um Abschreckung in unruhigen Zeiten, schrieben die Blogger.
Der Fall Xia erregt noch aus einem anderen Grund alle Gemüter. Sein Sohn zeigte von früh an Talent zum Malen und wurde ausgezeichnet. Als der Vater in der Todeszelle saß, begann der Junge seine Sehnsucht nach ihm in unzähligen Motiven zu verarbeiten. Blogger verbreiteten die anrührenden Kinderzeichnungen, die im Mai in einem sofort ausverkauften Bilderbuch erschienen. (Johnny Erling aus Peking, DER STANDARD, 26.9.2013)