Auf dem Ararat strandete eine Arche, auf dem Hochland der Provinz Aragazotn nur ein Linienbus.

Foto: Nicole Quint

Land-Art und Symbol für Identität: das armenische Alphabet.

Foto: Nicole Quint

Das Höhlenkloster Geghard am Talende der Azat-Schlucht.

Foto: Nicole Quint

Eine 82-Jährige vor dem selbstgebackenen Fladenbrot Lavash.

Foto: Nicole Quint

Anreise: Austrian, LOT Polish Air und Czech Airlines fliegen von Wien direkt nach Eriwan.

Veranstalter: "Gebeco - Länder erleben" hat viele verschiedene Armenien-Reisen im Programm, etwa die neuntägige Rundreise "Entdeckung am Fuße des Ararat";

Info: Armenia Information

Diese Reise wurde unterstützt von Gebeco.

Grafik: DER STANDARD

In Armenien landen Hoffnungen und Wünsche im Taubenschlag. Es gibt schlechtere Endstationen für Träume und teurere. Nur 1000 Dram, etwa 2 Euro, kostet es, damit ein Käfig geöffnet, ein schneeköniginnenweißes Täubchen herausgegriffen und in die Hände von Brautpaaren, Schulkindern oder Touristen gelegt wird, auf dass sie ihre Träume mit dem Vogel fliegen lassen.

Eine Bitte erfüllt sich auf diesem Weg garantiert - die der Taubenbesitzer um gute Geschäfte. Mit goldzahnblitzendem Lächeln bedanken sie sich bei ihren Kunden. Im Hauptberuf sind sie Toilettenputzer, Souvenir- oder Ticketverkäufer, stehen mit ihrem Nebenerwerb aber in der ehrenvollen Nachfolge eines biblischen Stammvaters. Noah soll der Erste gewesen sein, der in dieser Gegend eine Taube auf die Reise schickte.

Mit seiner Arche während der Sintflut auf dem Gipfel des Ararat gestrandet, entsandte er eine Taube als Kundschafter. Als diese nicht mehr zu ihm zurückkehrte, schaute Noah selbst nach und rief: "Yerevats!" - "Ich sehe Land!" Auf ebenjenem Stück Erde soll die Stadt Eriwan errichtet worden sein.

Nur Witze, keine Bilder

Eriwan - das ist für viele nur ein Name wie Milwaukee, Mongrovia oder Mistelbach: bloße Punkte auf der Landkarte, zu denen es in unseren Köpfen keine Bilder gibt, sondern höchstens Witze - die Witze von Radio Eriwan über Parteiführung, Korruption oder Mangelwirtschaft in sozialistischen Zeiten. Frage an Radio Eriwan: "Was ist eine Sprotte?" Antwort: "Ein Wal, der im Kommunismus angekommen ist." Heute wünschten sich nicht wenige Armenier die Sprotten zurück.

Die alten Zeiten waren nicht gut, in ihrer Erinnerung aber allemal besser als die Gegenwart mit einem Durchschnittslohn von umgerechnet 250 Euro im Monat. Ihr Land steckt im Transit fest - aufgebrochen, aber längst nicht angekommen. Noch hustet der Sozialismus über Eriwans Plätze und breit angelegte Boulevards, noch hockt er mit Alten und Arbeitslosen vor den Hauseingängen der Plattenbauten und klebt nostalgisch an "Mutter Armenien", einer Statue im klotzigen Ostblockformat. Neben den Requisiten der Sowjetzeit lehnt sich aber schon das Neue an die rosa Tuffsteinfassaden der Nobelhotels, sitzt lässig auf weißen Korbstühlen, bestellt bunte Cocktails oder stöckelt in Schuhen wie Sprungschanzen über die Abovjan, Eriwans Haupteinkaufsstraße.

1991 trat Armenien aus der Sowjetunion aus und in den Kapitalismus ein. Anzugträger, die Cafés, Aufzüge und Busse in öffentliche Büros verwandeln, sind bislang in der Minderheit. Die schöne neue Welt des Westens aber ist im Anmarsch, bereit, aus den Armeniern funktionierende Konsum- und Kommunikationsmenschen zu machen. Wer spüren möchte, was Armenien zu verlieren hat, muss weg von Eriwans Allerweltsbars und dem Einheitssortiment seiner Supermarktketten, weg von Prestigeprojekten und den Protzbauten der Oligarchen, dahin, wo Armenien unverwechselbar ist, aufs Land und in die Dörfer.

Kreuzsteine

Über Straßen mit Löchern, so groß und zahlreich, als wäre ein Meteoritenregen niedergegangen, fährt man den Sanddornpflückern vom Sewansee entgegen, zu den Basaltstelen der Azat-Schlucht oder den bewaldeten Berghängen des Nordens, vorbei an jesidischen Schafhirten und an Skeletten ausgeweideter Buswracks, die den Augen in der graubraunen Berglandschaft bunte Fixpunkte liefern. Und überall wachsen einem tiefergelegten Horizont Chatsch'khare entgegen.

Chatsch'khare sind Kreuzsteine, eingemeißelt in bunte Tuff-, Basalt- und Sandsteinblöcke. Klein, unscheinbar und halb zerfallen manche, andere ehrfurchtsvoll groß, mit Mustern, so fein, als wären sie nicht gemeißelt, sondern gestickt oder geklöppelt. Mehrere Tausend dieser steinernen Symbole des Christentums bevölkern Armenien. Die ältesten halten sich seit dem 5. Jahrhundert aufrecht, und alle sind so verschieden wie die Künstler, die sie einst schufen. Von einem der Kreuzsteine lacht Jesus mit langen geflochtenen Zöpfen und Mandelaugen. Pfiffig der Steinmetz, der hoffte, das mongolische Aussehen würde einfallende Horden aus Asien davon abhalten, seine Arbeit zu zerstören.

In der Nähe dieses Kreuzsteins steht eine alte Frau im lila Kittel und mit über der Stirn geknotetem Kopftuch und hält ihren kleinen Enkel an der Hand. Den Gesichtern der beiden kann man nicht auf den Grund gehen. Sie tarnt sich mit Freundlichkeit und zwinkert ihre Wangenhaut zu vielen runzeligen Grübchen. Er blockt die Fremden mit einem Blick ab, der viel älter ist als er selbst. Nur das Comicheft, das er sich wie ein Schild vor die Brust hält, gibt seiner Kindheit ein Alibi.

Nationales Erbe

Die Verschlossenheit der Armenier ist ein nationales Erbe, ihre misstrauische Haltung verkörperte Geschichte. Jeghern, Aghetigoti und Asatamartik - Völkermord, Katastrophengebiet und Befreiungskämpfer: Hinter diesen drei Begriffen steht der Genozid von 1915 an 1,5 Millionen Armeniern, das schwere Erdbeben von 1988 und der Kampf mit Aserbaidschan um Berg-Karabach. Als hätten sie geahnt, dass die Geschichte ihnen einen festen Glauben abverlangen würde, führten die Armenier im Jahr 301 unserer Zeitrechnung den armenisch-apostolischen Glauben als Staatsreligion ein und wurden damit zum ältesten Christenvolk der Welt.

Italiener besuchen Armenien auch deshalb so gern, weil sie sich den Konkurrenz-Vatikan in Edschmiatsin anschauen wollen. Dort hat der Katholikos, das geistliche Oberhaupt der armenischen Kirche, seinen Sitz. Mit alttestamentlichem Gesicht unter schwarzer Kapuze spendet er den Segen, vollkommen ungerührt von einem Crescendo aus Kameraklicks, mit denen seine Gläubigen ihn hochauflösend verpixeln. Armenier achten Autoritäten, aber sie zeigen sich nicht als sündige Selbstbeschuldiger, die bußbereit auf Knien rutschen oder sich auf den Boden werfen. Erst wird vor dem Altar gebetet, dann geschwatzt. "Gott darf ruhig alles hören, wir sind mit ihm per du", erklärt eine Reiseleiterin und überlässt es ihrer Gruppe, zu überlegen, von wem Gott sich wohl siezen lässt.

Echte Sternschnuppen-Momente schenken einem aber die Kirchen, die auf Hochplateaus balancieren, wie Stalagmiten emporwachsen oder direkt in den Felsen gehauen wurden. Beim Betreten scheuchen Besucher Staubpartikel auf. Sie tanzen im weißen Licht, schweben die rußschwarzen Wände rauf bis unter die Kuppeln, die verziert sind mit ineinander verschlungenen Ranken, Tropfen, Rosetten und Zapfen. Dann verhallt der Klang der Schritte. Stille wird zum Weihrauch dieses besonderen Augenblicks, und flugs stülpt die Kuppel uns den Glauben über: den Glauben an die Künstler, die hier gemeißelt, geritzt, gefeilt und gehämmert haben. Viele Wochen könnte man durch Armenien reisen und würde doch immer wieder neue Kirchen, Klöster und Kreuzsteine entdecken - ein endloser Refrain der Mystik.

"Wir sind ein kleines Volk, aber wir haben eine eigene Sprache und unsere Religion." Der Taubenzüchter sagt es, die Lehrerin und der Herbergsleiter sagen es. Es ist die immergleiche Beschwörungsformel, die den Armeniern Zuversicht gibt. Auch der Mann, der die Plüschpferde vermietet, auf denen Kinder in Eriwan über den Opernplatz hopsen, preist Sprache und Glauben, allerdings auf seine Weise - er erzählt Witze. "Frage an Radio Eriwan: Kann man als guter Kommunist auch ein guter Christ sein? Antwort: Im Prinzip ja, aber warum wollen Sie sich das Leben doppelt schwer machen? - Dieses Problem hat sich ja nun erledigt."

Er lacht, hebt ein Mädchen auf eines seiner Pferde und gibt ihr einen kleinen Schubs als Starthilfe. Direkt neben dem Opernhaus wird Tischtennis gespielt. Aus einer Karaoke-Bar plärrt Tina Turners Hit "We don't need another hero", und eine Schar Tauben schwebt mit vom Licht der untergehenden Sonne dramatisch beleuchteten Bäuchen über den Platz. (Text und Fotos: Nicole Quint, DER STANDARD, 27.9.2013)