Sarajevo/Zagreb – "Nationalität: Bosniake. Glaube: Islam. Sprache: Bosnisch": Der Kulturverein Gradačac will offenbar bestimmen, was die Bürger bei der Volkszählung, die am 1. Oktober in Bosnien-Herzegowina beginnt, ankreuzen sollen. Fatmir Alispahić behauptet auf der Webpage sogar, dass durch den Zensus der Genozid an den Bosniaken fortgesetzt würde. Statistikprofessor Hasan Zolić wiederum weiß bereits jetzt das Ergebnis: "Die meisten sind Bosniaken, und so wird es auch nach der Volkszählung sein."

"Der Zensus wird von den politischen Akteuren als eine Wahl verstanden, deshalb versucht man von verschiedenen Seiten, die Ergebnisse zu beeinflussen", erklärt der Südosteuropa-Experte Florian Bieber von der Universität Graz. Das hat auch damit zu tun, dass die Verfassung von Dayton (1995) den ethnischen Proporz so verankerte, dass nicht nur politische, sondern auch Verwaltungsämter streng nach Volksgruppenzugehörigkeit vergeben werden.

Es wird daher nicht debattiert, ob der Zensus darüber Aufschluss geben wird, wie viele Menschen in die Stadt gezogen oder ob sie ärmer geworden sind, sondern über die Fragen 24, 25 und 26: ethnische Zugehörigkeit, Religion und Sprache. Die letzte Volkszählung fand im Jahr 1991, also noch vor dem Krieg (1992–1995) statt. Damals bezeichneten sich 43,7 Prozent als Muslime, 31,4 Prozent als orthodoxe und 17,3 Prozent als katholische Christen.

Politische Forderungen

Die jetzige Quotenregelung bezieht sich auf diese Volkszählung, und es ist nicht vorgesehen, dass sie durch den neuen Zensus geändert werden soll. Dennoch könnten dem Ergebnis politische Forderungen folgen. "Wenn es eine sehr große Diskrepanz zwischen 1991 und heute gibt, dann sind die alten Quotenregelungen schwer aufrechtzuerhalten", so Bieber. "Man könnte etwa fragen: Weshalb braucht es in dem Landesteil Republika Srpska fünf bosniakische Minister, wenn es dort nur fünf Prozent Bosniaken gibt?"

Besonders bosniakische Nationalisten fürchten, dass die Leute sich nicht als Bosniaken, sondern als Muslime oder als Bosnier deklarieren könnten. "Denn bisher sehen sich überwiegend nur Bosniaken in ihrer staatsbürgerlichen Identität als Bosnier", so Bieber.

Die Frage ist tatsächlich spannend, rührt sie doch an der Verfassung des Staates. Falls sich viele als Bosnier (ohne ethnische Zuordnung) bezeichnen, wäre dies ei­ne indirekte Ablehnung des Ethno­proporzes. "Und das ist ein Risiko für die ethnonationalistischen Par­teien", erklärt Bieber mögliche politische Folgen.

Abgesehen von der Frage, wie und ob sich Minderheiten (etwa Juden und Roma) deklarieren, die durch den Ethnoproporz diskriminiert sind, hat der Zensus auch im Nachbarland Kroatien eine Debatte entfacht. Denn dort warb die staatliche Agentur für Auslandskroaten auf ihrer Webpage dafür, dass sich die Leute doch als "Kroaten", "katholisch" und "kroatischsprechend" deklarieren sollen. Die Website ist nach Kritik von NGOs verschwunden.  (Adelheid Wölfl /DER STANDARD, 27.9.2013)