"Diese jüngste Epoche des Weltgeschehens
hatte in ihnen allen, allen Männern und
Frauen, einen Quell von Tränen gezeugt.
Tränen und Kummer; Mut und Ausdauer,
eine vollkommen aufrechte, stoische Haltung."
"Mrs. Dalloway" von Virginia Woolf

Vor der Premiere der vierten Staffel von "Downton Abbey" hat die britische Boulevardpresse Wichtigeres im Sinn: "Messerwetzen der TV-Köche!", schreien die Gazetten. Ausgelöst hat den Krieg der Knöpfe ausgerechnet Englands nobelste Kuchenbäckerin Mary Berry. Die 78-jährige TV-Köchin ist eine Institution im britischen Fernsehen, die unumstrittene Queen im Reich der Kochlöffelschwinger. Sie ist Autorin von mehr als 70 Kochbüchern und unterweist das britische TV-Publikum seit gut 50 Jahren in der Fertigung guten Essens.

Wenn man weiß, wie britisches Essen schmecken kann, ist sie also eine tapfere Kriegerin, die den Glauben an den guten Geschmack ihrer Landsleute nicht verliert. Ihr Wort hat Gewicht, es bedeutet etwas, wenn Berry sagt, sie hasst Gordon Ramsey, den Rockstar unter den Fernsehköchen. Sie hasse Ramseys Show, sagte Berry, und das war sogar einem Qualitätsblatt wie dem Guardian nicht gleichgültig, zumal Berry bei der Gelegenheit gleich das gesamte britische Fernsehen für gänzlich unerträglich erklärte. Es sei "brutal, gemein und laut."

Aktuell ist Berry Jurorin der Castingshow "The Great British Bake Off", zur großen Freude des Publikums, das davon gar nicht genug bekommen kann. Sieben Millionen schauten zuletzt zu – bei einer Show, in der die Teilnehmer weder tanzen noch singen und auch keine akrobatischen Kunststücke vorführen, sondern: backen. Nirgendwo anders könnte ein solches Showprogramm erfunden worden sein als bei den Briten.

Gebacken wird auch in Downton Abbey. In der ersten Folge der neuen, vierten Staffel – seit 22. September auf ITV und ab 2014 beim Bezahlsender Sky – führt eines der Küchenmädchen einen Handmixer in der Wirtschaft ein und macht sich sogleich ans Werk, um aus Mehl, Zucker und Ei eine cremige Masse zu schlagen. Mrs. Padmore, die Küchenchefin, beäugt das Gerät skeptisch, denn es ist das Jahr 1922, und derartige Hilfsmittel haben in den Küchen der Dienerschaft noch nicht Einzug gehalten. Padmore reagiert so, wie jede überzeugte Haushaltsmanagerin reagieren würde: Was soll der Blödsinn! Um Stunden später, nachts, wenn alle schlafen, doch zu dem ratternden Ungetüm zu greifen, was natürlich in einer Riesensauerei endet. Die neuen Zeiten, sie gefallen nicht allen, entziehen aber kann man sich ihnen auch nicht.

Auf weltweit 220 Sendern

Seit 2010 schwirren die Bewohner des Herrensitzes Downton Abbey im Serienkosmos umher und erobern die Herzen des Publikums auch außerhalb des Empires im Sturm. Auf weltweit 220 Sendern sind die Schicksalsgeschichten der Familie Crawley – von Lord und Lady Grantham, ihren Töchtern Mary, Edith und Sybil zu sehen, ebenso wie jene der Dienerschaft im Untergeschoß des Schlosses, wo sich ein zweites, nicht minder ereignisvolles Reich auftut. 120 Millionen Menschen verfolgen die glücklichen und dramatischen Momente im Leben des Adelsgeschlechts und ihrer Angestellten. Wie sie feiern, wie sie trauern, wie sie wirtschaften und misswirtschaften, wie sie streiten, wie sie lieben, wie sie Cricket spielen, Hirsche schießen, Weihnachten feiern und wie sie sich an neuen technologischen und sozialen Errungenschaften reiben – und es ist bei Gott nicht nur der Mixer, mit dem sich die Menschen in den 1910er- und 1920er-Jahren gleichzeitig beglückt und überfordert fühlen. Das ganze pralle Leben. Es ist ein Hype.

Was haben nun Wettbacken und Adelsschicksale gemein? Natürlich geht es um Sehnsüchte, im Fall von Bake Off um jene nach dem süßen Duft des Backwerks aus Mutters Händen aus lang vergangener Zeit einerseits und andererseits um ein schlichtes Spaßbedürfnis, bei dem es in Wahrheit um nichts geht: Wer verliert, behält seinen Job, und der Ruf ist nicht ruiniert. Die Lust an der Entschleunigung steht vermutlich auch im Mittelpunkt des Publikumsinteresses bei Downton Abbey. Aber das ist es nicht allein.

Oh Milady! Maggie Smith als Countess of Grantham ist ein nicht zu unterschätzender Erfolgsfaktor des weltweiten Quotenbringers.
Foto: itv

1. Herrschaftszeiten

"Natürlich geht es um Sex und um Geld", sagt Julian Fellowes, Erfinder von Downton Abbey. Das scheint banal, aber der 64-jährige Oscar-Preisträger (Gosford Park) hat Recht. Sex in Downton Abbey passiert hinter verschlossenen Türen, so dass man sich allerhand ausmalen kann. Und die Sache mit den Finanzen hat mit gegenwärti-gen Befindlichkeiten zu tun, die mit jenen in Downton Abbey korrespondieren. Die Serie startete 2010, in einer Zeit, als die Finanzkrise gerade einen neuen Höhepunkt erreicht hatte. Die allererste Szene zeigt Lord Grantham (Hugh Bonneville) am Frühstückstisch, wie er die Post öffnet und die schlechte Nachricht vom Untergang der Titanic verkündet, die gleichsam als monströse Ausformung den Glauben an maximalen Wachstum 1912 für lange Zeit erschüttert. Damals wie heute herrschten gesellschaftliche Glücksvorstellungen, die sich am Aufbruch orientieren. Festgefahren ist alles geworden, der Alltag, die Beziehung der Geschlechter, es musste etwas passieren, und Downton Abbey lebt vor, wie sich Wandel anfühlt: Lord Grantham, der sich zunächst den Ideen der nachfolgenden Generation versperrt wie im Untergeschoß die Küchenchefin Mrs. Padmore dem Mixer, sich aber irgendwann wie sie öffnet und sich auf das Neue, Unbekannte einlässt.

Oder Edith (Laura Carmichael), die mittlere Tochter, die als Erste von allen in ein Auto steigt und das Traktorfahren lernt, schließlich Zeitungskolumnen schreibt, also als Frau einen Beruf ausübt. Schließlich und vor allem Mary (Michelle Dockery), die heimliche Herrin von Downton Abbey und am Anfang der vierten Staffel mehr denn je Thronfolgerin.

2. Spitze Dialoge

Wer sich auf einem dermaßen unsinkbaren Schiff weiß wie die Mannschaft von Downton Abbey schreckt auch vor Unkonventionellem nicht zurück, womit wir beim nächsten Erfolgsrezept wären: dem Drehbuch. Downton Abbey -Neulinge oder all jene, die das Ende der dritten Staffel noch nicht kennen, sind gut beraten, die nächsten vier Absätze zu überspringen. Es wird etwas verraten.

Jenes Ende brachte nämlich eine schockierende Wende, als Lady Marys, nach mehrfachem Hängen und Würgen doch noch geehelichter Gemahl, Matthew Crawley, bei einem Autounfall ums Leben kommt, ein Unglück, das auch für die Crew überraschend kam. Dan Stevens, Darsteller des Matthew, hatte genug vom blauen Serienblut und verließ die Show. Dass ein zentraler Charakter mitten im Geschehen durch den Tod aus der Handlung gerissen wird, ist seit Alfred Hitchcocks Psycho nicht neu, aber sehr oft passiert es auch wieder nicht. Serienerfinder haben neuerdings ihre Freude daran, Game of Thrones wartete mit einem überraschenden Abgang auf, ebenso wie das Zombieepos The Walking Dead. Downton Abbey hat schon einen Verlust zu beklagen, die jüngste Tochter Sybil wurde ebenfalls bereits beerdigt.

"Wir wollten nicht, dass uns Dan verlässt, vor allem nicht so plötzlich. Wir wollten einige Folgen der neuen Saison mit ihm drehen und ihn dann sterben lassen, aber er war sehr darauf aus, die Serie bereits am Ende der letzten Staffel zu verlassen", erklärt Fellowes, der sich in London gemeinsam mit Schauspielern und Produzenten Journalistenfragen stellte. "Seine Entscheidung bereitete uns große Angst." Der Schock dauerte glücklicherweise nicht lange, als Fellowes eine Idee hatte, wie die Geschichte weitergehen könnte: "Die Wahrheit ist, die neue Situation gab uns die Freiheit, mit der Geschichte sechs Monate später fortzusetzen. Das war ein Vorteil, weil wir an einem Punkt beginnen konnten, an dem es glaubhaft ist, dass Mary ihr Leben zurückbekommt und neu anfangen kann.

"Der Verlust von Matthew gab uns eine fantastische Gelegenheit für die neue Saison", sagt auch Produzent Gareth Neame. Ein Glücksfall, denn damit hat die Serie einen neuen Auftrag: die Emanzipationsgeschichte einer Frau, die sich in Zeiten des Umbruchs in einer Männerwelt mit Entschlossenheit und strenger Miene behauptet. Und Mary kann sehr streng schauen! Ihre Darstellerin Michelle Dockery sagt, sie liebe ihre Rolle deshalb: weil Mary "nicht immer nett" ist.

Man muss schon gesehen haben, wie die junge Lady diese Wandlung vollzieht: Anfangs noch in Trauer erstarrt, steht sie wieder auf, um sich ihrer neuen Aufgabe zu stellen. Und das ist nur am Rande die Mutterschaft, wie Dockery erklärt: "Mein Instinkt war, sehr modern und umsorgend zu sein. Mary ist als Mutter anders, sie hält ihr Baby wie einen Fremdkörper im Arm. Sie findet es schwierig, mit dem Kind eine Bindung einzugehen." Kindererziehung war in Adelsfamilien Sache der Nanny, die dadurch innerhalb der Dienerschaft einen Sonderstatus einnahm und etwa nicht mit ihr das Essen einnahm. Mary, Mutter eines Sohnes, kümmert sich nicht übertrieben um ihren Sohn. Ach ja, der heißt übrigens George, gleich wie ein noch berühmteres Neugeborenes im Königreich. "Als wir in der Zeitung davon lasen, konnten wir es kaum glauben", sagt Dockery.

3. O Violet!

Downton Abbey-Einsteiger dürfen jetzt weiterlesen. Aus der Besetzungsnot eine lupenreine Selbstbefreiung zu machen, das ist ein Geniestreich und spitz wie die Bemerkungen der Dowager Countess of Grantham, Lady Violet. Die alte Lady ist ein weiterer, nicht zu unterschätzender Erfolgsfaktor. Maggie Smith spielt den matriarchalen Familienvorstand mit der Würde einer Monarchin und untrüglichem Instinkt für verbale Seitenhiebe. Violets Sparringpartnerinnen sind nicht minder rhetorisch geschult. Mit Shirley MacLaine als Besucherin aus Amerika und Mutter von Lady Grantham tauscht sie jede Menge Stutenbisse aus, auf die das Publikum nicht verzichten mag.

Fellowes schrieb Smith dermaßen ins Herz der Zuschauer, dass es einen regelrechten Aufstand gab, als es vor der dritten Staffel nicht ganz klar war, ob die Dowager Countess wieder dabei sein würde. Wochenlang hielt der Protest an, es wurde nie ganz geklärt, ob wirklich Gefahr bestanden oder ob es sich nicht um einen geschickten Marketinggag gehandelt hatte. Wie auch immer: Es ging auf, Smith darf weiterätzen.

4. Britische Anziehungskraft

Längst hat sich das Schicksal der Granthams ins wirkliche Leben verlängert. Die jeweils 45 bis 60 Minuten Fernsehen reichen offenbar nicht aus, das Publikum dürstet nach mehr, was nicht nur dazu führt, dass Downton Abbey mehr als 1,3 Millionen "Likes" auf Facebook und rund 260.000 Follower auf Twitter verzeichnet, sondern dass ganz Großbritannien derzeit einen Boom als Urlaubsdestination erlebt: Besichtigungstouren am Originaldrehort Highclere Castle zu Preisen von bis zu 150 Euro sind hoffnungslos ausgebucht. "Alle diese denkmalgeschützten Gebäude sind im Moment unglaublich schick", sagt Produzent Neame. "Viele Menschen leben in Orten mit alten Häusern, aber nie zuvor hätten sie je daran gedacht, sie zu besichtigen. Jetzt tun sie's." Nicht nur in Großbritannien übrigens, wo auch immer sich britisches Erbe befindet, gibt es gesteigertes Interesse an seiner Besichtigung.

Zeitungen erklären, wie man sein Eigenheim auf Downton Abbey trimmt: Man streiche die Wände in "Empire Grey", wie die Farbe des Zimmers von Butler Jim Carson, nicht zu verwechseln mit "Amber Grey", jenem Ton in Mrs. Padmores Küche.

Nicht gesichert ist hingegen, dass der britische Thronfolger und seine Gemahlin ihren Erstgeborenen nach Marys George genannt haben. Das echte Downton Abbey-Schloss ist Highclere Castle, ein Herrenhaus im Neorenaissancestil des 19. Jahrhunderts im Norden der englischen Grafschaft Hampshire, rund sechs Kilometer südlich von Newbury im Südwesten von London. Herr und Herrin von Highclere sind Lord und Lady Canavern, und wie die Granthams hatten sie irgendwann Schwierigkeiten, sich selbst aus der Landwirtschaft finanzieren, und mussten ein neues Geschäftsmodell für sich finden. Bevor Downton Abbey kam, wurde das Schloss für Fotoshootings und Hochzeiten gebucht. Das Filmen dort darf man sich hinge- gen nicht allzu romantisch vorstellen, erzählt Hugh Bonneville, Lord of Grantham: "Das Wichtigste, was man zum Drehen im Schloss brauchte, sind aufgeschnittene Tennisbälle. Damit keine Kratzer in den Boden kommen, haben alle Scheinwerfer und Kameras grüne Tennisbälle auf ihren Beinen."

Das Publikum dürstet nach mehr und das historische Serien-Drama geht (nach Verlusten an Mitspielern) in seine vierte Runde. Wem das nicht reicht: Besichtigungstouren am Originaldrehort Highclere Castle sind leider hoffnungslos ausgebucht.
Foto: itv

5. Das Gesetz der Serie

Downton Abbey ist das erfolgreichste Produkt aus dem Königreich, aber es ist nicht das einzige. Gegenwärtig gibt es einen Run auf britische Serienware. Von den "zehn besten Serien" bei der Cologne Conference, dem jährlichen Treffpunkt der Branche im September, kommen fünf aus Großbritannien. Während die USA, vormals Garant für epische Serienkost, ihre Schlagzahl in den letzten beiden Jahren merkbar verringert haben und lieber erfolgreiche Produktionen wie Boardwalk Empire, Mad Men und Game of Thrones fortsetzen, schießen die Engländer einen Qualitätsmehrteiler nach dem anderen auf den Markt. Nur eine kleine Auswahl:

  • Broadchurch Die Krimiserie brach alle Rekorde: Mehr als zehn Millionen fieberten bei der Suche nach dem Mörder eines zehnjährigen Buben mit. Die Fortsetzung ist bereits fix.
  • Top of the Lake Bei Jane Cam-pion (The Piano) treffen Elisa- beth Moss (Mad Men) und Holly Hunter (Copykill) aufeinander. Ein Mädchen wird vermisst, eine Polizistin sucht in Neuseeland. Kritiker überschlagen sich mit Lob.
  • Sherlock Den genialen Privatdetektiv schickte die BBC in die heutigen Straßen von London. Die Romanfigur fasziniert über Grenzen hinweg. Der ORF zeigt die Fälle.
  • Skins Bevor MTV mit den freizügigen Teenies in die Schlagzeilen kam, zeigte die britische Fassung die ungeschminkte Wirklichkeit jugendlichen Feierns.

Historienserien sind traditionell im Trend. Dazu zählen:

  • Das Haus am Eaton Place Die Fortsetzung der Butlerserie war ein Hit letzte Weihnachten und wird am häufigsten mit Downton Abbey verglichen. Eine weitere Staffel ist fix. Die Dienstboten begeisterten in den 1970ern auch hierzulande.
  • Call the Midwife Die Hebamme in den 1950er-Jahren begeistert mittlerweile das US-Publikum. In Österreich lief das etwas gar bieder geratene Stück ebenfalls.
  • Q Parade's End Mit "Sherlock"-Darsteller Benedict Cumberbutch im Liebesringen mit Rebecca Hall und Adelaide Clemens, vor allem aber mit sich selbst als sich der Etikette verpflichtet fühlender Landlord.
  • Mr Selfridge erzählt die Biografie des Kaufhauseigentümers und spielt zur selben Zeit wie Downton Abbey.
  • Paradise Das Mädchen Denise fängt in Londons erstem großem Kaufhaus an. Dort geht es bisweilen etwas intrigant zu. Historische Britenserie mit reizenden Gewändern.

Es herrscht Aufbruchstimmung in der britischen TV-Industrie, davon wollen alle profitieren. Nach sieben Jahren wagt sich der schwächelnde Qualitätssender Channel 4 wieder an eine Eigenproduktion. Der günstige Wind führt zu einem Auftragsboom: 2015 wartet eine sechsstündige Version von Leo Tolstois Monumentalepos Krieg und Frieden.

Mitbewerber, die wie etwa der ORF Sparprogramme erfüllen müssen, greifen gerne zu. Gebacken wird demnächst auch im deutschsprachigen Fernsehen: Ein Privatsender erwarb eben die Rechte zum Wettbacken.

Manch einer will einen US-Einfluss erkennen, zumal die erste Szene der neuen Saison einem Thriller ähnelt (als ob Thriller eine rein amerikanische Erfindung wäre). "Gott, eine wundervolle Idee!", ruft Fellowes entzückt. Aber natürlich hat es nichts damit zu tun. "Der Erfolg in den USA beruht auf der Tatsache, dass sich die Show selbst treu bleibt", sagt Gareth Neame, der ausführende Produzent. "Wenn wir uns anpassen würden, wäre das ein Todeskuss. Wir wären verrückt." (Doris Priesching, Album, DER STANDARD, 28./29.9.2013)