Bild nicht mehr verfügbar.
Timothy Garton Ash: Extremisten im EU-Parlament.
Das deutsche Volk hat gesprochen, und die EU wird weiter Schildkröte sein. Kommenden Mai, nach den Wahlen zum EU-Parlament, werden wir nur noch feststellen, wie langsam und unglücklich diese Kreatur ist. In der kommenden Dekade wird sich aber eine größere, aesopische Frage stellen: Kann diese Schildkröte den amerikanischen Adler und den chinesischen Drachen je überholen? Oder zumindest Schritt mit ihnen halten?
So beeindruckend der Wahlsieg "Mutti" Merkels war, eine neue deutsche Regierung muss erst gebildet werden. In einer Bundesrepublik passiert dies traditionell so schnell und grazil wie eine Schildkrötenpaarung. Kommt eine große Koalition mit den Sozialdemokraten heraus, könnte es kleine und wünschenswerte Änderungen in der deutschen Eurozonenpolitik geben.
Merkel bemerkte am Montag, dass sie ihren Ansatz für Südeuropa, das durch Schulden, Sparen und Depression (ökonomisch wie psychologisch) traumatisiert ist, nicht ändern wird. Mit Blick auf Deutschland, das seine Lohnstückkosten gesenkt und seine Wettbewerbsfähigkeit wieder hergestellt hat, sagte sie: "Was wir getan haben, können andere auch."
Nichtsnutzige Südländer
Die Sozialdemokraten verstehen es ein wenig besser, oder sagen es vielleicht nur ein wenig ehrlicher, dass die Erholung der Eurozone nicht ganz so simpel ist. Manche Schuldenberge sind einfach untragbar. Gesteigertes Angebot verlangt auch nach Nachfrage. Sollte es diese Koalition geben, werden die Sozialdemokraten aber Juniorpartner sein, von den Wählern vor allem nach internen Kriterien beurteilt werden. Und weil die deutschen Wähler keinen Cent mehr für angeblich nichtsnutzige Südländer zahlen wollen, werden die Anpassungen der Europolitik bescheiden ausfallen.
Im besten Fall wird der weiche Bauch der europäischen Schildkröte – das schulden- und depressionsgetriebene Südeuropa – weiterhin leicht bluten. Im schlechtesten wird es ein Blutsturz – politisch wie ökonomisch. Die griechische Wirtschaft ist um 25 Prozent geschrumpft, die Jugendarbeitslosigkeit bei 70 Prozent und ansteigend, die Staatsverschuldung erreicht 175 Prozent. In Griechenland scheinen mehr soziale Misere und politischer Extremismus unausweichlich. Anderswo, in Spanien und Irland, zeigen die schmerzhaften Reformen langsam, aber unsicher Ergebnisse.
Bei den deutschen Wahlen hat das politische Zentrum gehalten. Kommenden Mai, bei den Europawahlen in 28 Staaten, ist das weniger wahrscheinlich. Vertreter von Protestparteien aller Couleur, von der griechischen Morgenröte zur britischen Ukip, von der Linken in Deutschland bis zu Geert Wilders Freidemokraten in den Niederlanden, könnten das Parlament in Brüssel füllen. Wenn das tatsächlich passiert, wird das Parlament ein Glashaus voller Menschen sein, die mit Steinen werfen. Diese Fragmentierung allerdings wird auch zu paneuropäischen Allianzen von konservativen, sozialistischen und liberalen Parteien führen, zu einer großen Koalition in Brüssel, wie es sie (wahrscheinlich) auch in Berlin geben wird.
Gleichzeitig wird Merkel noch mehr als bereits jetzt dazu tendieren, die europäische Show als intergouvernementales Geschäft abzuwickeln – für die Euro-18 oder die EU-28. Merkels Problem dabei ist, dass sie keinen strategischen Partner dafür hat, und zwar in keiner der beiden anderen führenden Mächte in Europa.
Frankreichs François Hollande möchte, aber sein Land wird von Wirtschaftsschwäche und langsamen Reformtempo gelähmt. David Cameron in Großbritannien, mit einer sich erholenden Wirtschaft und einer stabilen Koalition, könnte in der Theorie. Praktisch aber haben ihn seine euroskeptischen Konservativen und eigene taktische Fehlkalkulationen auf den verrückten Kurs manövriert, die britische EU-Mitgliedschaft "nachzuverhandeln" . Das macht Merkel zur alleinerziehenden Mutti Europas.
Ein Blick auf Aesop
Das bedeutet für die Zukunft der EU: eine gigantische, lustlose Schildkröte, auf deren Panzer Kanzlerin Merkel sitzt, versucht ihren wirren Kopf und ihren blutenden Unterleib über steiniges Gelände zu bugsieren. Bevor alle in tiefe Melancholie fallen, ist es aber wert, in Aesops Fabeln zu blättern und den Wettstreit mit Adler und Drachen zu reflektieren. Schließlich hat bei Aesop auch die Schildkröte und nicht der Hase gewonnen.
Ich verfolge das deutsche und europäische Zeitlupenspektakel von den USA aus. Dort ist mein Fernsehschirm mit Parteienstreit gefüllt, der der zentristischen, konsensualen und koalitionsbildenden Demokratie Deutschland diametral entgegen steht. Selbst eine Arbeitseinstellung der Regierung in wenigen Tagen wird für möglich gehalten.
Und das aufstrebende China? Das Versagen von Präsident Xi Jinping bei politischen Reformen macht eine tiefe Krise in diesem Land in der kommenden Dekade noch wahrscheinlicher.
Alle drei großen Ökonomien der Welt haben substanzielle Probleme unterschiedlichster Art. Die europäische Schildkröte Merkels wird in absehbarer Zeit nicht auf Tempo kommen, aber auch nicht fallen. Können wir das über Adler und Drachen auch behaupten? (Timothy Garton Ash, DER STANDARD, 28.9.2013)
Übersetzung: C. Prantner