Südostasien wird seit einigen Jahren als geostrategischer Hotspot betrachtet. Die USA haben ihre Rückkehr in den Raum angekündigt, gleichzeitig steigt China zur Großmacht auf. Politischer und wirtschaftlicher Einfluss in den Ländern zwischen Pazifik und Indischem Ozean sind Ziel beider Großmächte. Und dass der Verband Südostasiatischer Staaten (ASEAN) eine alles andere als homogene Einheit bildet, verkompliziert den Interessenkonflikt in der Region. derStandard.at sprach mit Asien-Experte Bernt Berger über unterschiedliche Motive der Großmächte USA und China, fehlende Sicherheitsstrategien und eine drohende Bipolarität.

derStandard.at: Schadet die Absage Obamas den Beziehungen der USA zu den jeweiligen Ländern oder läuft eine Ebene niedriger sowieso alles seinen gewohnten Gang?

Berger: Den Beziehungen zu den Ländern an sich schadet die Absage nicht. Vielmehr erweckt die USA den Eindruck, dass sie in Zeiten interner Probleme nicht die Rolle einnehmen kann, die von ihr gerade sicherheitspolitisch erwartet wird. Wirtschaftlich hat die Absage Obamas eher symbolischen Wert. Für die USA ist es wichtig, die "transpazifische strategische wirtschaftliche Partnerschaft" (TPP) voranzutreiben, um in der Region ihre Einfluss aufrecht zu halten und nicht noch weiter gegenüber China ins Hintertreffen zu geraten. Zumindest ist Außenminister John Kerry vor Ort.

derStandard.at: In Südostasien wird schon länger von einem drohenden Konflikt zwischen den USA und China gesprochen. Wie sehr entspricht das der Realität?

Berger: Das halte ich für übertrieben. Die USA haben für lange Zeit den Eindruck erweckt, sich aus dieser Region zurückzuziehen. Mit ihrem sogenannten "pivot" (Schwenk, Anm.) sind sie nun zurückgekehrt. Im Detail haben sie versucht, sich strategisch neu zu positionieren. Da sich alte Sicherheitsprobleme wie die Straße von Taiwan entspannt haben, mussten neue Themen gefunden werden. Die USA versuchten es zunächst mit den Territorialkonflikten im Chinesischen Meer, davon sind sie aber wieder abgekommen, weil es sich auf die Großmachtbeziehung mit China negativ ausgewirkt hat. Die neue Strategie lautet, China herauszufordern, damit es proaktiver und verantwortungsbewusster in Südostasien handelt.

Auf der anderen Seite hat China die Rückkehr der USA lange Zeit falsch interpretiert und als Eindämmungsstrategie aufgefasst. Inzwischen gibt es in China auch andere Meinungen dazu. Dieser Realisierungsprozess hat nur etwas gedauert.

derStandard.at: Welche geostrategischen Ziele verfolgen die beiden Großmächte?

Berger: Die militärische Strategie Chinas lautet, jegliche Eindämmung ihres Einflussbereiches zu erwidern und gleichzeitig sicherzustellen, dass das Meeresgebiet um China nicht wie in der Kolonialzeit unter fremde Kontrolle fällt. Die USA sind seit längerer Zeit eine Ordnungsmacht in dieser Region, das wollen sie auch bleiben. Und deren Wahrnehmung ist, dass China aufrüstet. Die Frage stellt sich, welche Ziele China damit verfolgt, und da agiert Peking sehr intransparent.

Diese beiden Strategien gilt es nun unter einen Hut bringen. Es kann nur in jedermanns Interesse sein, dass China in dieser Region zu einer verantwortungsbewussten Ordnungsmacht wird. Das Problem ist, dass China kein Vertrauen bei den anderen südostasiatischen Staaten genießt. Neben der Intransparenz hat das vor allem mit den territorialen Konflikten im Südchinesischen Meer zu tun. Die meisten südostasiatischen Länder werden trotzdem versuchen, die Konflikte mit China zu lösen und gleichzeitig eine gute Beziehung zu den USA aufzubauen. Sie wollen die USA auf jeden Fall in der Region halten und als strategischen Partner gewinnen.

Zwei Flaggen, zwei unterschiedliche Interessen in Südostasien. (Foto: AP/Charles Dharapak)

derStandard.at: Den südostasiatischen Ländern steht also eine Gratwanderung zwischen beiden Großmächten bevor.

Berger: Ja. Die Frage dabei ist, ob sich die Staaten innerhalb der ASEAN zerreiben, oder ob sie es schaffen, einen Block zu bilden und diese beiden Akteure wieder einzufangen, damit es nicht zu einer Bipolarität in dieser Region kommt.

derStandard.at: 2002 wurde von der ASEAN ein Verhaltenskodex für das Südchinesische Meer angekündigt. Daraus ist bislang nichts geworden.

Berger: Was den Verhaltenskodex betrifft, haben die Chinesen diplomatisch versagt. Die Zeit hat auch gegen sie gespielt, weil die Länder nun Misstrauen gegen sie aufgebaut haben. Der Kodex ist jetzt wieder auf dem Tisch, allerdings sind die Rahmenbedingungen sehr kompliziert. Die Chinesen haben Militärbasen auf diversen Inseln aufgebaut, die Vietnamesen und Filipinos kooperieren mit Russland und den USA und erkunden mögliche Erdölvorkommen. Das muss alles in die Verhandlungen eingebunden werden. Aber im Moment glaubt keiner daran, dass China von seinen Ansprüchen zurücktritt.

derStandard.at: Seit wann fährt China die Strategie, mit der sie so viel Misstrauen hervorgerufen hat?

Berger: Die Gebietsansprüche Chinas sind nicht neu. Es kam in jüngster Zeit aber zu Missverständnissen, für die China durch einige Fehler mitverantwortlich ist.

Nach der rhetorischen Rückkehr der USA in den Pazifikraum 2011 - real kam es nur zu einem Anstieg von US-Soldaten in Australien - ist China präsenter in der Region aufgetreten, was die anderen Länder kritisch beäugt haben. Ein internes Problem Chinas ist, dass es sechs Behörden für die Küstenüberwachung gibt: die Volksbefreiungsarmee, die Küstenwache, die Behörde für Fischereirecht, die Verwaltung für Seesicherheit, die allgemeine Zollverwaltung und die Meeresüberwachung. All diese Organisationen verfügen über bewaffnete Schiffe, die Wahrnehmung der anderen Länder war dementsprechend.

Ansonsten gibt es keine tiefgreifenden Probleme in der Region, die wirtschaftlichen Beziehungen sind tadellos. Es ist allen bewusst, dass China eine aufstrebende Macht ist, die auch nicht verschwinden wird. Und in China selbst hört man immer wieder die generelle Aussage: Strategisch sollte es ein Gleichgewicht geben, und wirtschaftlich ist Südostasien groß genug für zwei Großmächte.

derStandard.at: In Burma, das sehr abhängig von China ist, kam es zu einer Öffnung. Die USA haben das goutiert und bringen sich mehr und mehr ein. Stehen hier neue  Interessenskonflikte bevor?

Berger: China ist vor allem einmal überrascht über die Ereignisse in Burma und analysiert gerade, wie es dort weitermachen will. Bislang hatte es dort aufgrund der Sanktionen des Westens gegen Burma eine Carte blanche. Sie waren der größte Handelspartner und konnten frei investieren. Nun will Burma den Einfluss Chinas reduzieren, aber nicht die Beziehung verschlechtern.

Das Gerede über einen möglichen Konflikt zwischen Großmächten halte ich für eine müßige, geostrategische Debatte. Seit der Unabhängigkeit Burmas im Jahr 1948 muss Burma Großmachtinteressen ausbalancieren, das ist also nichts Neues. Wichtig ist hierbei, dass Burma seine diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen diversifiziert.

derStandard.at: Mit welcher Sicherheitsstrategie für Südostasien kann man in den nächsten Jahren rechnen?

Berger: Das große Problem ist, dass es bisher keine vernünftige Sicherheitsarchitektur in der Region gibt. Die Staaten haben es nicht geschafft, ein Gremium zu etablieren, in dem sie gemeinsame sicherheitspolitische Entscheidungen treffen. Die ASEAN-Gremien nimmt niemand ernst, deshalb konnte man China und die USA auch nicht richtig einbinden. Die Staaten müssen ein relevantes multilaterales Forum bilden, um eine Bipolarität in dieser Region zu vermeiden.

derStandard.at: Angenommen, so ein Gremium kommt weiterhin nicht zustande. Wie würde es dann im Südchinesischen Meer weitergehen?

Berger: Es gibt zwei wichtige Aspekte in dieser Region. Erstens: Es findet zwar kein Wettrüsten statt, aber die Waffenkäufe sind in den betreffenden Ländern enorm gestiegen, auch im internationalen Vergleich. Das ist eine bedenkliche Entwicklung. Zwar verfolgen die Staaten eine Nichteinmischungs- und Nichtaggressionspolitik, aber sie trauen sich untereinander einfach nicht.

Zweitens: Aufgrund mangelnder Koordination und Kommunikation zwischen den Ländern werden sich die beiden Großmächte weiterhin an den Hot Spots platzieren und versuchen, ihre Interessen durchzusetzen.

Die südostasiatischen Staaten stellen sich je nach Thema mal auf die eine und mal auf die andere Seite. Das wird zu einer Dynamik führen, die immer brisant ist, solange es keine vernünftige Sicherheitsarchitektur gibt.

derStandard.at: Welche Rolle spielt bei alldem der Nationalismus in den Staaten? Es scheint, als würde er zunehmen.

Berger: Das ist vor allem in Nordostasien ein Problem, zwischen China, Japan und Korea. In diesen Ländern wurde die Vergangenheit nie richtig aufgearbeitet, sie haben alle Probleme mit ihrer Geschichte. Für die Regierungen ist das innenpolitisch wichtig, sie nutzen den Populismus, um ein einheimisches Publikum zu bedienen und Strategien durchzusetzen. Wenn nicht alle Regierungen das Thema anfassen, wird Nationalismus weiterhin einen großen Teil der Agenda dominieren. Und somit auch außenpolitische Entscheidungen beeinflussen. (Kim Son Hoang, derStandard.at, 8.10.2013)