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Vitamin D, das der Körper mit Hilfe von Sonnenlicht bildet, könnte einen präventiven Einfluss auf Autoimmunerkrankungen haben.

Foto: REUTERS/Yannis Behrakis

Das Immunsystem ist schnell, schlagkräftig und effizient. Die Geheimpolizei des Körpers besteht unter anderem aus hochspezialisierten weißen Blutkörperchen. Spüren diese Agenten gefährliche Subjekte auf, alarmieren sie das Sondereinsatzkommando: T-Helfer-Zellen, die Krankheitserreger bekämpfen. Manchmal aber schleicht sich ein Fehler ein, und es reagiert auf Zellen des eigenen Körpers plötzlich wie auf krankmachende Keime - und schwere Autoimmunkrankheiten brechen aus: Schuppenflechte, Typ-1-Diabetes, Morbus Crohn, rheumatoide Arthritis, Zöliakie oder Multiple Sklerose (MS).

Diffuse Beschwerden

Allein in Österreich sind nach Schätzungen etwa 400.000 Menschen betroffen. Besonders beunruhigend: Oft dauert es Jahre, bis zur Diagnose, zu diffus sind Beschwerden wie Kribbeln, Juckreiz, Libidoverlust oder depressive Verstimmung. Abwarten, raten viele Ärzte, doch das ist mitunter fatal.

"Das Fortschreiten von rheumatoider Arthritis beispielsweise lässt sich in den ersten sechs Monaten nach Ausbruch der Krankheit mit Medikamenten häufig noch völlig zum Stillstand bringen", sagt Michael Seitz, stellvertretender Chefarzt an der Universitätsklinik für Rheumatologie am Inselspital Bern. "Später hingegen ist das kaum mehr möglich."

Mehr als 50 Autoimmunerkrankungen sind bekannt. Heilbar ist keine, denn ist das Abwehrsystem einmal außer Kontrolle geraten, so gibt es kein Mittel, es wieder vollständig zu disziplinieren. Ärzte verschreiben dann Kortison, mit dessen Hilfe sich das gesamte Immunsystem bremsen lässt. Im Gegenzug steigt das Risiko für Infektionen.

Genetik und Umwelt

Doch wie kommt es überhaupt dazu, dass das Abwehrsystem durcheinander gerät? Genetische Veranlagung spielt offensichtlich eine Rolle: Britische Forscher konnten das am Beispiel MS zeigen. Sie fanden 49 veränderte Genabschnitte, die fast alle für das körpereigene Abwehrsystem relevant sind. Viele dieser Genvariationen sind auch bei Typ-1-Diabetes und Rheuma involviert.

Doch nicht nur die Gene, auch Umweltfaktoren spielen bei Autoimmunerkrankungen eine Rolle. Das haben Studien an eineiigen Zwillingen ergeben. Getreidehaltige Babykost etwa scheint das Entstehen von entzündlichen Darmkrankheiten zu begünstigen.

In vielen Fällen brechen Autoimmunkrankheiten im Anschluss an eine Virus-Infektion aus. Rauchen, Stress und psychische Belastung können das Fortschreiten solcher Erkrankungen ungünstig beeinflussen. "Umwelteinflüsse und die individuelle Lebensweise spielen mit Sicherheit eine Rolle", sagt der Immunologe Burkhard Becher von der Universität Zürich. "Doch wie stark sich diese Faktoren im Detail auswirken, können wir in den meisten Fällen noch nicht genau sagen."

Salz, Fisch und Sonne

Auffallend ist, dass Autoimmunerkankungen in sonnigen Ländern, deutlich seltener auftreten als in nördlichen Gefilden. Vitamin D, das der Körper mit Hilfe von Sonnenlicht bildet, könnte einen präventiven Einfluss haben, vermuten Wissenschafter und finden Hinweise in Tierversuchen.

Auch hoher Salzkonsum wird diskutiert. US-Forscher stellten fest, dass nach dem Essen in Fastfood-Restaurants im Blut von Versuchspersonen die Zahl der T-Zellen, die Entzündungen fördern, stark anstieg. In der Folge untersuchten sie dieses Phänomen systematisch in Tierversuchen und mit menschlichen Zellen im Reagenzglas: Sie nahmen dabei eine Untergruppe der T-Zellen näher unter die Lupe, die TH17 genannt werden. Die wiederum gehören zu den T-Helfer-Zellen, die im Alarmfall zu Hilfe eilen und gegen Krankheitserreger kämpfen.

Produziert der Organismus zu viele oder eine besonders aggressive Variante dieser Zellen, so neigen gerade TH17-Zellen dazu, körpereigenes Gewebe zu attackieren. Salz scheint beide Risikofaktoren zu fördern. Der Konsum von Fisch hingegen scheint sich positiv auszuwirken: Die Inuit, die sich traditionell von Fisch ernähren, leiden selten an Schuppenflechte und Typ-1-Diabetes. MS kam bis in jüngste Zeit nicht vor.

Ringen um Strategie

Ob sich Autoimmunkrankheiten eines Tages vollständig heilen lassen, ist ungewiss. "Ein Zaubermittel wird es mit hoher Wahrscheinlichkeit nie geben", sagt Seitz. Schon deshalb weil die Beeinträchtigungen des Abwehrsystems bei den einzelnen Krankheiten im Detail sehr verschieden und zu unterschiedliche Zelltypen, Enzyme und Botenstoffe beteiligt sind. Zumindest hoffen Ärzte wie er aber, künftig die spezifischen Fehlfunktionen des Immunsystems mit Wirkstoffen gezielter kompensieren zu können, statt die gesamte Abwehr etwa mit Kortison-Präparaten zu bremsen.

Becher beschäftigt auch die Frage, weshalb gerade in den Industrieländern die Autoimmunerkrankungen immer häufiger werden. Wie viele andere Experten vermutet er, dass das Immunsystem aus Unterforderung aus dem Ruder laufen kann. "Vor allem Parasiten wurden in Mitteleuropa so weit zurückgedrängt, dass die körpereigenen Abwehrkräfte sich kaum mehr anstrengen müssen", sagt er. "Manches spricht dafür, dass das Abwehrsystem zu einseitig stimuliert wird und dadurch fehleranfällig werden könnte." 

Wurmeier schlucken

Das Bekämpfen von Würmern beispielsweise sei für die körpereigene Abwehr jahrtausendelang Routine gewesen und fehlt dem Immmunsystem jetzt. Was für diese Theorie spricht: Ist der Darm eines Patienten von Fadenwürmern besiedelt, verlaufen viele Autoimmunkrankheiten weniger schwer.

"Wurmeier zu schlucken, ist nicht jedermanns Sache", sagt der Zürcher Immunologe Becher. "Aber viele Parasiten sind für den Menschen harmlos, und die ersten Resultate geben Anlass zur Hoffnung. Ich kann mir vorstellen, dass diese Therapiemethode Zukunft hat." (Till Hein, DER STANDARD, 1.10.2013)