Zachary Jernigan: "No Return"
Gebundene Ausgabe, 292 Seiten, Night Shade Books 2013
Lasset die Körpersäfte fließen! Es niest keiner in "No Return", aber ansonsten tropft, quillt und spritzt hier alles, was der menschliche Organismus abzusondern vermag. Herschauen, Stephenie Meyer: So arbeitet man als Autor seine mormonische Erziehung ab. Und nicht mit aseptischen Milchzahn-Vampiren, die keinen Sex vor der Ehe haben.
Ich kann kaum Negatives an Zachary Jernigans Debüt-Roman finden. Etwas Feinschliff geht natürlich immer. Aber wo es einem Erstlingswerk da noch mangeln mag, wird dies mit einer Qualität wettgemacht, die ebenfalls eher für junge AutorInnen typisch ist: Nämlich dieser gewissen Sturm-und-Drang-Attitüde, mit der den LeserInnen das vor den Latz geballert wird, was dem Autor ein Anliegen ist. Heißt hier: Pro Sex. Pro Selbstbestimmung. Anti Religion. (Das Anti ergibt sich mehr oder weniger zwangsläufig aus den beiden Pros.)
Das Bühnenbild
Jeroun ist ein Planet, der einst von den riesenhaften elders bevölkert war, ehe die Menschen aus ihren Metalleiern schlüpften und ihn neu besiedelten. Die elders haben allenthalben gigantische Bauwerke hinterlassen - und ihre fossilen Überreste, aus denen nun alle möglichen magischen Substanzen gewonnen werden. Unbemerkt von der Menschheit, auf der anderen Seite der Welt, liegt allerdings noch ein Kontinent, auf dem eine elder-Restpopulation im Winterschlaf verharrt. Verborgen unter einem permanenten Wirbelsturm wie dem Roten Fleck des Jupiter.
Und damit noch nicht genug des Worldbuildings: Hoch im Orbit, nahe Jerouns Mond, kreist eine Formation gewaltiger kugelförmiger Gitterkonstrukte. Adrash, der höchst reale Gott Jerouns, bewegt sie ... im Handbetrieb, erster zarter Hinweis auf die Körperlichkeit, die sich als Grundmotiv durch den ganzen Roman zieht. Zwei solcher Himmelskugeln hat der von den Menschen enttäuschte Gott einst abstürzen lassen und damit einen Kataklysmus ausgelöst. Zur endgültigen Ausrottung der Menschheit hat er sich bislang aber nicht durchringen können. Noch hegt er die Hoffnung, dass ihn irgendwann mal jemand positiv überrascht. Oder vielleicht auch, dass ihm jemand Ebenbürtiges entgegentritt.
Und wenn schon der Gott selbst rätselt, ob er nicht möglicherweise längst verrückt geworden ist, was sollen dann erst die Menschen von ihm halten? Does Adrash love the peaceful, or does he love the strong? Eine religiöse Konfliktlinie zieht sich durch den ganzen Heimatkontinent der Menschheit: Adrashi verehren den Gott und glauben, dass er die Welt retten wird. Anadrashi hingegen verfluchen ihn und erklären, dass die Menschheit ohne ihn besser dran wäre. Beide Seiten gehen dabei mit dem gleichen religiösen Eifer vor. Rituelle Kämpfe zwischen den VertreterInnen beider Glaubensrichtungen stehen an der Tagesordnung und bringen nach dem Sex das zweite Element Körperlichkeit in den Roman ein: Gewalt.
Der Held ...
Vedas Tezul ist in einem Orden der Anadrashi aufgewachsen und hat es zu einem begnadeten Kämpfer gebracht. So gut ist er, dass er den Orden bei einem großen internationalen Turnier vertreten soll. Die monatelange Reise quer über den Kontinent wird ihn allerdings mit der Erkenntnis konfrontieren, dass er trotz seiner 34 Jahre in allen Belangen außer dem Kämpfen vollkommen unerfahren ist. "You're a good man, but you're not a whole man", bringt es einer seiner Reisegefährten auf den Punkt. Letztlich führt ihn der Weg zur Selbsterkenntnis unweigerlich auch zur Frage, ob er die Regeln und Ziele seiner Religion weiter vertreten kann.
Jernigan hat in einem Interview bekannt, dass in Vedas viel von seiner eigenen Biografie eingeflossen ist. Zumindest was das Ringen mit der Religion betrifft, weniger die Martial-Arts-Künste und die Gabe, in einem superheldenmäßig hautengen Kampfanzug eine gute Figur abzugeben ... Generell sind die Charaktere des Romans erfreulich vielschichtig gezeichnet: Ein willkommenes Gegengewicht zur knalligen Action-Handlung.
... und seine GefährtInnen auf der Queste
Churli Casta Jons, kurz Churls, ist eine erfahrene Kämpferin; nicht aus ideologischen Motiven heraus, sondern für Geld. Ähnlich wie Vedas hält sie sich dabei an einen nicht für jedermann nachvollziehbaren Ehrenkodex: Mord ist für sie tabu. Dennoch tötet sie professionell und hat - wie fast alle der Romanfiguren - ausgesprochene Lust am Kämpfen. Immer wieder erscheint ihr der Geist ihrer zu Tode gekommenen Tochter Fyra und übernimmt die Rolle ihres Gewissens. Zudem sähe Fyra ihre Mutter am liebsten mit dem unschuldigen Vedas verkuppelt. Aber es knistert zwischen Churls und Vedas ohnehin von Beginn der Reise an gewaltig.
Und dann wäre da noch Berun, ein künstliches Geschöpf, das aus winzigen Metallkugeln ähnlich den orbitalen Konstrukten besteht. Berun hat sich den beiden TurnierteilnehmerInnen nicht ganz freiwillig angeschlossen: Sein Schöpfer hat ihn beauftragt, Vedas im Auge zu behalten und - ohne eine Begründung dafür zu nennen - ihn gegebenenfalls zu töten. Aber Berun beginnt Vedas und Churls zu mögen: Auch ihn wird also mehr und mehr das Gewissen plagen.
In einem parallelen Handlungsstrang treten außerdem noch zwei outbound mages auf: Magier, die sich in den Orbit schleudern, um ihren rätselhaften Gott vielleicht aus der Nähe besser verstehen zu lernen. Beziehungsweise im Fall der Zauberin Ebn Bon Mari, um den Gott zu verführen. Das Konzept der "alchemischen Astronauten" hat ein Leser anschaulich als Marvel-style space opera beschrieben. Jernigan selbst ordnet seinen Roman als Science Fantasy ein.
Die Message
Jernigan müsste es gar nicht erst explizit aussprechen, sein Roman macht auch so klar, dass dem Autor Diversität ein Anliegen ist. Ethnische, geschlechtliche und sexuelle gleichermaßen. Überhaupt Sex: Der kommt in fast allen Variationen und in expliziter Form vor. Wobei genau genommen Solo-Nummern die Mehrheit stellen. She had resisted the temptation to masturbate for almost two months. So fangen Kapitel in Fantasy-Romanen selten an, und erst recht nicht lassen sie dem eine mehrseitige Beschreibung des Akts folgen. Aber wie gesagt: Es knistert zwischen den Hauptfiguren (und nicht nur denen), zugleich stehen ihnen alle möglichen Hemmnisse im Weg. Wie soll man/frau sich da denn sonst Abhilfe verschaffen? Exploitation ist "No Return" nicht, jede sexuelle Handlung hier hat ihre Platzberechtigung.
Jernigans Bibliografie umfasst bisher vor allem Kurzgeschichten. Darunter bemerkenswerterweise auch einen Beitrag für die "Wired Hard"-Reihe, die SF & Fantasy mit schwuler Pornografie - pardon: Erotica - kombiniert. Vielfalt als Konzept, nicht aufgrund eigener Betroffenheit, sondern um der Sache willen. Das macht Jernigan, selbst nämlich heterosexuell, dann wohl zu einer Art James Franco der Phantastik.
Fazit
Bei Fantasy-Mehrteilern beschränke ich mich mittlerweile - wenn überhaupt - darauf, den ersten Band in einer Rundschau vorzustellen und das Dranbleiben dann den LeserInnen zu überlassen. Aber alle heiligen Zeiten kommt ein Autor vorbei, dem doch etwas Originelleres als das ewig gleiche Dauermittelalter eingefallen ist. Steph Swainston mit ihrer "Komet"-Reihe etwa. Jeff VanderMeers "Ambra"-Romane. Ricardo Pintos "Steinkreis des Chamäleons". Oder zuletzt Ken Scholes' Reihe "Die Legende von Isaak". Bücher, die einen wirklich in neue Welten führen. Ohne Orks, ohne Elfen, ohne das ganze ausgelutschte Zeug, das bei weitem nicht so selbstverständlich ist, wie viele AutorInnen zu glauben scheinen.
Zachary Jernigans "No Return" zähle ich da jetzt dazu. Das Buch ist als Standalone-Roman zu lesen, schreit aber geradezu nach einer Fortsetzung. Und Jernigan hat auch schon vage eine in Aussicht gestellt. Da darf ich ausnahmsweise - ohne Kontext ist es eh kein Spoiler - die beiden Schlusssätze des Romans zitieren: Months, maybe years of anticipation. He wondered if he could wait that long.