Anna Witt, geboren 1981 in Wasserburg am Inn/Deutschland, lebt und arbeitet in Wien. Sie studierte an der Akademie der Bildenden Künste in München sowie Performative Bildhauerei bei Monica Bonvicini an der Akademie der bildenden Künste in Wien. Ihre Arbeiten wurden in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen im In- und Ausland gezeigt. Wichtige Stationen waren etwa die Berlin Biennale 2010 und die Manifesta7 in Rovereto 2008.

Foto: Belvedere BC21

Anna Witt: "Push", Video, 2006.

Arbeiten von Anna Witt und den anderen Nominierten des BC21 Art Award - Marlene Haring, Ralo Mayer, Christoph Meier - sind im 21er-Haus ausgestellt.

Bis 3. 11.

Siehe auch: Kurzporträts der Nominierten

Foto: Anna Witt

Wien - Radikal denken, was ist das? "Alle Staaten gehen bankrott. Nationalitäten werden abgeschafft. Intoleranz wird strafbar. Bürokratie wird verboten. Das Internet ist für immer tot. Die Billiglohnarbeiter in China gehen streiken, bis alle Großkonzerne pleitegehen." Diese und andere Ideen erhielt Anna Witt auf ihre Bitte an Passanten, radikal zu denken, also die Dinge von der Wurzel her komplett neu zu ersinnen. Aber dieser Freiraum werde von den wenigsten genutzt, beobachtete die 32-jährige Künstlerin. "Die meisten versuchen, positive Werte zu vermitteln."

Radikales Denken heißen auch die Videos zu Witts Feldversuchen 2009 in der Lugner City oder 2013 am neuen Hauptbahnhof. Die Wiederholung der Arbeit an einem spannenden Umbruchsort – Baustelle und Teil eines neuen, geplanten Stadtviertels zugleich – interessierte sie hinsichtlich der Frage, ob eine solche Arbeit ebenso als Porträt eines Ortes funktioniert. Auffällig war, dass die Wortspenden am Bahnhof mit seinen vielen Pendlern ernsthafter ausfielen als jene im Einkaufszentrum, die lustiger, manchmal aber auch radikaler waren.

Witt zeigt die nachdenklichen, aber stummen Gesichter auf einem Monitor, deren verschriftlichte Utopien laufen auf einem anderen Schirm: Dass die Ideen ihren Autoren nicht mehr zuzuordnen sind, ist der Künstlerin enorm wichtig. Diese Tendenz, Aussagen einer bestimmten Person zuzuweisen und sie auch zu beurteilen, habe sie brechen wollen. Von Bedeutung sei es auch, die Menschen einmal nicht in Verbindung mit einem Tun dazustellen, sondern in einem Innehalten zu präsentieren. Eine Perspektive, die ihnen Würde, wenn nicht gar Autorität oder Mystik verleiht. Denn vor allem sei ihre Arbeit "eine Hommage an das Denken, eine Tätigkeit, die gesellschaftlich untergeht".

Macht der Bilder, Macht der Autoritäten

Wie die Gesellschaft mit Bildern, die in Massenmedien zirkulieren, umgeht, ist eine weitere Frage, die Anna Witt seit längerem beschäftigt. In The Eyewitness, einem 2011 entstandenen Video, bricht sie diese Routine im Betrachten von Medienbildern. Sie lässt Volksschulkinder, bei denen sich "Fantasie und eigene Ideen noch mischen", Fotos – etwa von Guantanamo-Gefangenen oder einem betrübten Broker beim Börsencrash – beschreiben. Darunter etwa ein prominentes Bild, das die deutsche Kanzlerin Angela Merkel bei der Asien-Europakonferenz 2010 in Brüssel zeigt – lachend und mit weit aufgerissenem Mund. "Sie schreit, weil der Mann (der rumänische Präsident Traian Basescu, Anm.) ihr, ohne Erlaubnis auf den Bauch gefasst hat", sind solche Missdeutungen manchmal durchaus komisch. Anderes, etwa wenn es um Krieg, Flucht oder Gefangenschaft geht, ist befremdlich. Aber die kindlichen Analysen machen deutlich, wie stark die Übereinkünfte sind, bestimmte Bilder zu lesen, wie übermächtig die gesellschaftlich eingeübten visuellen Codes sind.

In der abermals im Medium Video realisierten Arbeit Push (2006) eignet Witt sich eine autoritäre Geste an. Die Arbeit entstand in Los Angeles, wo Verhaftungen auf offener Straßen keine Seltenheit und das Bilder von auf Kühlerhauben niedergedrückten Suspekten allgegenwärtig sind. Für die Künstlerin ist es hingegen ein aus Hollywood-Produktionen bekannter Akt, dem sie in Push auch den Stellenwert einer Performance gibt. Sie bietet Freiwilligen einen Rollentausch und damit auch eine Erfahrung an: Zuerst darf man den Unterdrücker geben, anschließend verfügt man sich in die Position des Unterworfenen. Was ist das "Macht"?

Welchen Einfluss der Faktor Autorität im Prozess der Unterwerfung hat, untersuchte Witt bereits ein Jahr zuvor. In Kontakte übertrug sie das Abtasten von Menschen im Rahmen von Personenkontrollen in den privaten Bereich. Aus der zweckmäßigen Berührung wurde ein Gefühl von Intimität. Berührungsängste, die im zwischenmenschlichen Bereich vorhanden sind, "können durch Autoritäten ausgehebelt werden", sagt Witt. Darüber hinaus hat sie die Beobachtung gemacht, dass Menschen sich oft viel leichter in die passive Rolle einfügen konnten als in jene des Agressors.

Das Denken, Fühlen und Handeln anderer nimmt in Witts künstlerischer Praxis viel Raum ein: Sie greift dieses nicht nur auf, sondern regt es in ihrer Methodik, die in community-orientierten, aktivistischen Arbeitsweisen von Künstlern in den 1980er- und 1990er Jahren fußt, auch an. Diese und auch dokumentarische Qualitäten ihrer konzeptuellen, stets gesellschaftspolitische Themen bearbeitenden Kunst haben wohl auch die Jury des mit 20.000 Euro dotierten BC21 Art Award, vergeben von Boston Consulting und Belvedere, überzeugt. Witt "gelingt es, konzeptuelle Fragestellungen mit einer Empathie für jene zu verbinden, die zu ihren Werken beitragen, und dies in einer präzisen Formensprache auszudrücken. Ihre künstlerische Praxis scheint von echter Neugier getragen, wie der Einzelne denkt und die Welt in sozialer und politischer Hinsicht erfährt", heißt es unter anderem in deren Statement. (Anne Katrin Feßler, Langfassung, DER STANDARD, 2.10.2013)