Matthias Prössl, Geschäftsführer von Specialisterne Deutschland, will Unternehmen das Potenzial von Menschen im Autismus-Spektrum schmackhaft machen. Specialisterne ist auf die Rekrutierung von Autisten spezialisiert, als Consultants sind sie dann bei anderen Firmen tätig.

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Bis 2020 sollen bei SAP ein Prozent der Mitarbeiter aus dem Autisten-Spektrum kommen. Der Konzern beschäftigt derzeit rund 65.000 Personen.

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Europas größter Softwarekonzern SAP setzt bei der Rekrutierung auf das Potenzial von Autisten. Mit ihren besonderen Begabungen, etwa Genauigkeit oder der Fähigkeit, analytisch zu denken, sollen sie beispielsweise SAP-Software auf Fehler testen. Für die Auswahl der Mitarbeiter ist mit Specialisterne ein Unternehmen zuständig, das sich auf die Eingliederung von Autisten in die Arbeitswelt spezialisiert hat. Matthias Prössl, Geschäftsführer von Specialisterne Deutschland, erklärt im Interview mit derStandard.at, worauf bei Bewerbungsverfahren zu achten ist, wie Missverständnisse vermieden werden können und mit welchen Vorurteilen Menschen im Autismus-Spektrum konfrontiert sind.

derStandard.at: SAP hat als Ziel formuliert, dass bis ins Jahr 2020 ein Prozent der weltweit 65.000 Mitarbeiter Autisten sein sollen. Wie viele Kandidaten gibt es bereits?

Prössl: Im Mai, als SAP das Vorhaben kommunizierte, haben sich weltweit über 400 Menschen via Blindbewerbung gemeldet, alleine rund 200 aus Deutschland. Das ging von einer kompletten Bewerbungsmappe bis zum Dreizeiler: "SAP will Autisten. Ich bin einer. Wann kann ich anfangen?" Das war noch etwas unkontrolliert, woraufhin wir den Spieß umgedreht und alle Menschen angeschrieben haben. Es handelt sich um ein Pilotprojekt mit bestimmten Standorten - Waldorf in Deutschland, zwei Standorte in Kanada und zwei in den USA. Wir wollen das mit jeweils sieben bis zehn Leuten ausprobieren, um auch den SAP-Mitarbeitern die Chance der Gewöhnung zu geben.

derStandard.at: Betritt SAP mit dieser Strategie komplettes Neuland?

Prössl: Nicht ganz, bei der Größe des Unternehmens hatten wir die Vermutung, dass SAP bereits Mitarbeiter aus dem Autisten-Spektrum beschäftigt - aber unbewusst und ohne Outing. In der IT ist es ziemlich wahrscheinlich, dass es solche Mitarbeiter gibt. Dann gab es noch ein Projekt in Indien, das für die Entscheidung ausschlaggebend war, es global zu forcieren.

derStandard.at: Wie viele Personen sind derzeit in Deutschland in der engeren Wahl?

Prössl: In Deutschland haben wir eine Auswahl von 18 Menschen getroffen. Diese wurden in den letzten Wochen in Workshops und Interviews getestet, aktuell sind acht in der nächsten Phase, dem Assessment Center. Wie viele es davon schaffen, werden wir sehen. Vielleicht alle, vielleicht auch nur fünf. Das ist ja kein Charity-Unterfangen, sondern ein Business-Case.

derStandard.at: Wie unterscheiden sich Bewerbungsgespräche mit Autisten von anderen?

Prössl: Der größte Unterschied passiert im Vorfeld, nämlich Lebensläufen und Zeugnissen wenig Beachtung zu schenken. Das ist die erste Hürde, über die sehr viele stolpern, weil Lebensläufe häufig lückenhaft oder brüchig sind. Noten sind oft unterdurchschnittlich. In anderen Bewerbungsverfahren kommen solche Bewerbungen im Normalfall nicht über den Tisch des HR-Beraters hinaus.

derStandard.at: Und beim Interview selbst?

Prössl: Äußerlichkeiten dürfen keine Rolle spielen, nicht alle tanzen mit Anzug und Krawatte an, sondern kommen eher leger gekleidet. Ein weiterer Punkt ist das Kommunikationsverhalten, weil es im Sozialkontakt Schwierigkeiten gibt. Viele sind einsilbig, verstehen bestimmte Fragen nicht, etwa wenn in Bildern gesprochen wird. Geschlossene Fragen werden oft nur mit Ja oder Nein beantwortet, man wird nicht wirklich schlau daraus. Offene Fragen hingegen sind für sie oft schwierig zu beantworten. Da bedarf es einer intensiveren Beobachtung, wir machen das eher spielerisch.

derStandard.at: Wie genau?

Prössl: Mit Lego. Aufgabe ist es, einen Roboter mit einer Anleitung zu bauen, um zu beobachten, wie kreativ Bewerber agieren, wie strikt sie sich an die Anleitung halten, wie schnell sie sind und wie sie mit Unklarheiten umgehen. In einer weiteren Übung sind diese Roboter auch programmiert, um den Zugang zu Computern und Logik zu erkennen. Da sieht man schon sehr viel. Danach gibt es noch ein rund einstündiges Interview.

derStandard.at: Worauf muss man bei Fragen noch achten?

Prössl: Die Formulierung ist entscheidend. Wir hatten zum Beispiel eine Person, die vor dem Gespräch beim Empfang gewartet und gesagt hat, dass sie vorher noch fotografiert werden müsse. Wir haben dann gefragt, wieso, und die Antwort war: "Sie haben doch geschrieben, Sie wollen sich ein Bild von mir machen." Solche Phrasen können zu falschen Vorstellungen führen. Also keine blumige Sprache wählen, sondern sehr konkrete Fragen stellen. Manchmal führt das zu Missverständnissen, über die dann aber meist beide Seiten schmunzeln können.

derStandard.at: Werden die konkreten IT- und Softwarekenntnisse getestet?

Prössl: Grundsätzlich kann man sich auf die Angaben verlassen, weil Autisten tendenziell eher tiefstapeln und nicht übertreiben. Die konkreten Einsatzgebiete und Teams werden erst definiert. Im Bewerbungsprozess loten wir einmal Stärken und Schwächen aus.

derStandard.at: Ist der IT-Bereich ein bevorzugtes Arbeitsgebiet für Autisten, wie oft suggeriert wird? Was prädestiniert sie dafür?

Prössl: Ein Klischee ist es schon, es stimmt aber insofern, als der Computer an sich ein Kommunikationsmedium ist, das berechenbar ist. Es geht nicht primär um Interaktionen und etwa die Fähigkeit, Gesichter zu lesen. Man kann auf Geschriebenes reagieren. Die IT folgt gewissen Logiken, Regeln und Algorithmen, was für Autisten von Vorteil ist. Trotzdem ist die IT nur eine Nische von vielen. Ich kenne auch tolle Lektoren und Naturwissenschaftler. Grundsätzlich lässt sich aber sagen, dass Jobs, hinter denen eine Struktur und ein Regelwerk stehen, sehr gut geeignet sind.

derStandard.at: Eine Struktur und Regeln sind also wichtiger als die Branche selbst?

Prössl: Grundsätzlich ja, obwohl man von Verallgemeinerungen Abstand nehmen sollte. Es gibt zum Beispiel auch Krankenpfleger, das ist aber mit Sicherheit schwieriger.

derStandard.at: Ganz generell: Sind Autisten am Arbeitsmarkt noch mit vielen Vorurteilen konfrontiert?

Prössl: Ja, denn die wenigsten Menschen wissen wirklich, was Autismus ist. Meistens kommt der Film "Rain Man", in dem Dustin Hoffman einen Autisten spielt. Das verunsichert, weil der Protagonist zwar geniale Seiten hat, ansonsten aber nicht wirklich als inkludierbar dargestellt wird. Dieses Bild ist dominant. Ganz generell ist sehr viel Unwissenheit im Spiel, Menschen sind eher vorsichtig. Unsere Aufgabe ist es, diese Vorurteile abzubauen und die Realität aufzuzeigen. Dazu gehört auch, Stressoren und Reaktionen darauf bewusst zu machen. Etwa dass sie manchmal mitten in der Arbeit aus dem Zimmer rennen, um Stress abzubauen, oder einfach einmal auf den Tisch hauen, wenn es zu stressig wird. Das ist zwar hochindividuell, man muss es den Kollegen aber vermitteln.

derStandard.at: Schulung der Kollegen ist also ein wichtiger Schritt?

Prössl: Absolut, es gibt auch so viele Facetten im Autisten-Spektrum. Weiß man es, kann man als Kollege auch damit umgehen, wenn man auf der anderen Seite sieht, was der Mensch leisten kann. Also ein Geben und Nehmen. Wichtig ist es beispielsweise, die Fettnäpfchen, die auf beiden Seiten entstehen können, aufzuzeigen und Verständnis zu schaffen.

derStandard.at: Hat "Rain Man" hier ein völlig einseitiges Bild von Autismus vermittelt?

Prössl: Es handelt sich hier nur um eine Ausprägung des Autismus. Von solchen Menschen gibt es nur ganz wenige, und das sind nicht primär jene, um die es geht. Das gesamte Spektrum geht vom Nichtsprechenden über jene mit sehr vielen Ticks bis hin zu einem komischen Kauz, den Sie wahrscheinlich auch kennen, ohne überhaupt zu wissen, dass es sich um einen Autisten handelt. Interaktionen sind für viele Autisten eine intellektuelle Leistung. Parallel zum Arbeitsprozess ist das hochanstrengend und fordert sehr viel Energie. Das führt manchmal zu Burnout-Situationen oder Depressionen. Menschen sind nach der Arbeit so erschöpft, dass sie keine Energie mehr haben, Sozialkontakte aufzubauen. So kommt es leicht zu Vereinsamungen. Das wollen wir vermeiden, indem ein Autist so sein kann, wie er ist, und sich nicht groß verstellen muss.

derStandard.at: Wie viele Autisten sind berufstätig?

Prössl: Das ist schwierig zu sagen, aber wir gehen davon aus, dass rund 80 Prozent ohne Erwerbsarbeit sind. Untersuchungen zufolge sind 40 Prozent langzeitarbeitslos, also länger als sechs Jahre ohne Beschäftigung. Man geht davon aus, dass rund 1,2 Prozent der Bevölkerung vom Autisten-Spektrum betroffen sind.

derStandard.at: Was empfehlen Sie Autisten bei Bewerbungen? Einen offensiven Umgang?

Prössl: Das ist schwierig zu beantworten, förderlich ist es wohl nicht. Schreiben sie es offen hinein, werden sie wohl von den wenigsten eine Chance erhalten. Das eine ist die Diagnose, das andere ist der Status der anerkannten Behinderung mit Behindertenausweis. Das muss Arbeitgebern gemeldet werden, weil Arbeitsplätze nach besonderen Regeln gestaltet werden müssen und Entlassungen andere Konsequenzen haben. Meistens sind Lebensläufe von Autisten so lückenhaft, dass es letztendlich egal ist, ob sie es hineinschreiben oder nicht. Wir als Unternehmen wollen offensiv mit dem Thema umgehen und verkaufen den Mehrwert und nicht das Defizit. Das bedeutet Aufklärung und Begleitung.

derStandard.at: Begleitung heißt, dass Sie den Prozess des Eingliederns komplett übernehmen und Mitarbeiter dann direkt bei Ihnen angestellt sind und nicht etwa bei SAP?

Prössl: Das variiert. SAP möchte sie selber anstellen. Sonst ist es oft so, dass Mitarbeiter bei uns angestellt werden, um das Risiko für Firmen zu minimieren. Wir wollen Unternehmen die Scheu nehmen und übernehmen das Risiko, damit Dienstnehmer auch jederzeit Beschäftigungen beenden können, wenn etwa Projekte abgeschlossen werden. Wir wollen Firmen den Mehrwert aufzeigen, und wenn diese Erkenntnis reift, wie das bei SAP der Fall ist, dann sind wir überglücklich. (Oliver Mark, derStandard.at, 4.10.2013)