daStandard.at: Sie waren von 2004 bis 2009 ungarischer Premier. Wie fühlt es sich an, nun mit der Demokratischen Koalition eine Partei zu führen, die darum kämpft, überhaupt die Fünfprozenthürde zu überspringen?

Gyurcsány: Befreiend. Als Ministerpräsident muss man oft Kompromisse eingehen, mit denen man sich nur schwer identifizieren kann. Wenn man eine neue Partei führt, kann man konsequent auf den eigenen Vorstellungen bestehen.

daStandard.at: Im Ausland sind Sie hauptsächlich wegen der Őszöder Rede und deren gewaltsamen Folgen bekannt. Damals gaben Sie vor ihren damaligen sozialistischen Parteikollegen zu, die Öffentlichkeit belogen zu haben, um die Wahl 2006 zu gewinnen. Die Konsequenzen kennend: Würden Sie die Rede heute auch halten?

Gyurcsány: Für mich und meine Partei ist die Őszöder Rede im gewissen Sinne die Gründungscharta. Ein moralischer Beweispunkt, warum es sich lohnt, Politiker zu sein, und warum man nicht im Interesse der Macht einen Kompromiss in grundlegenden moralischen Fragen schließen darf. Sie war eine sehr gute rhetorische Leistung. Hätte ich gewusst, dass sie an die Öffentlichkeit gelangt und Teile von ihr ein Eigenleben entwickeln, hätte ich bestimmte Schimpfwörter nicht gesagt. In fast allen öffentlichen Debatten wiederhole ich seither einigen Formulierungen. Damit signalisiere ich auch, dass ich auf der Seite von Őszöd stehe und in moralischem Sinne auch dabei geblieben bin. Wir sind nicht Politiker geworden, weil man als Autolackierer weniger verdienen kann, sondern weil wir das Land verändern möchten.

daStandard.at: Die Politik der Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán sorgt national wie international für Kritik. Bei der Fidesz-Parteiversammlung erhielt Orbán zuletzt aber 1.240 von 1.241 Delegiertenstimmen.

Gyurcsány: Orbán hat keinen Herausforderer, es gibt keinen Riss innerhalb der Fidesz. Trotzdem glaube ich, dass er zu schlagen ist. Es gibt kaum eine gesellschaftliche Gruppe, die er nicht verletzt hat. Ich rechne mit einem zugespitzten Wahlkampf. Bei der nächsten Wahl geht es nicht um das Hochschul- oder das Gesundheitswesen, auch nicht um Steuern. Es geht einfach um die Person Orbán und die Frage: mit ihm oder ohne ihn?

daStandard.at: Ihre Demokratische Koalition möchte ein breites Wahlbündnis der demokratischen Oppositionsparteien, diese zeigen aber nicht wirklich Interesse. Woran liegt das?

Gyurcsány: Die anderen haben kein Problem mit der DK, sie fürchten mich. Teilweise geht es bei der Vielzahl oppositioneller Bewegungen darum, wer nach 2014 das Gesicht der Opposition sein wird. Darum möchten meine Kollegen nicht gerne mit mir konkurrieren. Ich bin aber ein härterer, kämpferischerer Politiker als sie. Wenn wir nach der Wahl in Opposition sind, werde ich als Fraktionschef zeigen, wie man so richtig gegen Orbán kämpfen kann. Wenn die derzeitigen Oppositionellen nach der Wahl an der Macht sind, werde ich die Kreise des neuen Premiers nicht stören. Dann muss ich nachgeben. Viele fürchten mich auch auf unserer Seite. Meine Aufgabe ist aber nicht, dem neuen Premier Probleme zu bereiten. Falls wir gewinnen, werde ich zwar meine Partei führen, nicht aber den Fraktionsvorsitz im Parlament übernehmen.

daStandard.at: Sofern die demokratische Opposition die nächste Regierung stellt: Mit welchen Aufgaben wird sie sich konfrontiert sehen?

Gyurcsány: Die allerwichtigste Frage ist, ob es in Ungarn wieder Wachstum gibt. Dafür muss das wirtschaftliche und politische Vertrauen ins Land wiederhergestellt werden. Die zweite Frage ist, wie wir nach der von Orbán erzwungenen Zentralisierung und Verstaatlichung des Gesundheits- und Schulwesens diese Kompetenzen an die Regionen zurückgeben. Drittens ist es für uns inakzeptabel, wie die heutige Regierung die großen christlichen Kirchen für die Verfestigung ihrer politischen Macht nützt. Es ist unannehmbar, wie ein signifikanter Teil der Kirchen die Schulen besetzt. Der Staat soll radikal von der Kirche getrennt werden. Die Kirchen haben Vergünstigungen erhalten, die in anderen Ländern unvorstellbar wären. Nicht zuletzt müssen wir etwas gegen die ungeheure Armut unternehmen.

daStandard.at: Die Armut ist aber nicht ausschließlich ein Produkt der letzten drei Jahre.

Gyurcsány: Während meiner Regierungszeit ist der Unterschied zwischen den ärmsten und den reichsten zehn Prozent der Bevölkerung permanent zurückgegangen. Die dramatische Veränderung erfolgte nach 2010. Die neuesten Forschungsdaten belegen, dass es noch nie so viele arme Leute gab wie heute. Ungarn ist zu den vier, fünf ärmsten Ländern Europas abgerutscht, was auch nachvollziehbar ist, wenn man Subventionen, Mindestlöhne und Arbeitslosengeld senkt.

daStandard.at: Nach der Nachwahl in Baja ordnete das Gericht in Kecskemét in einem Wahlbezirk eine Wahlwiederholung wegen illegaler Fahrdienste zum Wahllokal an. Ein solches Vorgehen gilt ab 2014 nicht mehr als illegal. Womit müssen wir bei der Parlamentswahl rechnen?

Gyurcsány: Der Wahlkampf wird brutal. Die Fidesz hat ein Wahlgesetz verabschiedet, das der Regierung tausende Möglichkeiten für Manipulation bietet, vielleicht sogar für Betrug. Man darf nun Fahrdienste organisieren, in den letzten Tagen vor der Wahl kleine Pakete voller Lebensmittel verschenken und am Wahltag in der Früh die Wähler massenweise zu den Urnen fahren. Damit versucht man die Stimmen jener zu kaufen, die sich in der schwierigsten Lage befindenden - darunter die Roma. Ich finde das nicht in Ordnung. Wenn die Menschen auf Grundlage solcher Beeinflussungen entscheiden, gibt es keine echte gesellschaftliche Unterstützung, sondern eine manipulative.

daStandard.at: Planen Sie, internationale Beobachter zur Parlamentswahl einzuladen?

Gyurcsány: Sie kommen auf jeden Fall. Wenn man sich aber ansieht, wie die OSZE die ukrainische oder die weißrussische Wahl bewertet hat, kann man nicht damit rechnen, dass die Wahrnehmung vieler kleinen Manipulationen dazu führen wird, dass die internationale Gemeinschaft die Wahl als gefälscht einstuft. Orbán wird aber ohnehin nicht von außen geschlagen, wir müssen hier zu Hause besser sein als er.

daStandard.at: Ist die rechtsradikale Jobbik eine vorübergehende Erscheinung, oder ist mit ihr 2010 eine langfristige Alternative ins Parlament gekommen?

Gyurcsány: Das Erstarken der radikalen Rechten ist nicht nur ein ungarisches Phänomen. Ich sehe gerade in Österreich, wie die radikale Rechte wächst. In einem Teil der europäischen Bevölkerung gibt es eine große Enttäuschung, eine Angst vor der Zukunft. Das führt zur Suche nach Sündenböcken und einfachen Lösungen. Darin sind die radikalen Parteien immer viel besser als die demokratischen, bürgerlichen, in der Mitte stehenden Parteien.

Jobbik konnte aber seit 2010 das eigene Lager nicht ausbauen, sie verfügt über 600.000 bis 700.000 Wähler. Einer der Gründe dafür ist, dass die Fidesz an die Jobbik grenzt. Die Fidesz befriedigt zu einem wesentlichen Teil das Bedürfnis der radikalen Rechtswähler. Ein Drittel der Fidesz-Abgeordneten könnte locker zur Jobbik gehören. Aus diesem Grund glaube ich, dass die Jobbik dauerhaft als eine kleine, marginalisierte Partei in der ungarischen Politik anwesend sein wird, die keine Koalitionsfähigkeit hat.

daStandard.at: Das Programm Ihrer Demokratischen Koalition beginnt mit dem Satz: "Die ungarischen Jugendlichen packen ein." Was würden Sie gegen die massenhafte Abwanderung der Jugendlichen tun?

Gyurcsány: Diese Leute gehen weg, weil es zu Hause keine Jobs gibt. Arbeit zu schaffen wird der Regierung von heute auf morgen nicht gelingen. Hier gibt es nur Jobs, wenn es massenhaft neue Investitionen gibt. Die derzeitige Investitionsrate liegt bei 16 Prozent der ungarischen Wirtschaftsleistung. Es wird Jahre dauern, diese Entwicklung zu stoppen. Wer den ungarischen Jugendlichen sagt, dass es im Fall eines Regierungswechsels ab 2015 viel mehr Jobs gibt, sagt nicht die Wahrheit. Wenn wir in Ungarn nicht ein Wachstum von drei bis vier Prozent erzielen können, werden wir nicht mehr als die jetzigen 3,9 Millionen Arbeitsplätze haben, und die 20-Jährigen werden weiterhin massenweise abwandern.

Eine besondere Gruppe ist jene der Ärzte, wo es genug Arbeitsplätze gibt. Aber ein junger Arzt in Ungarn, der kürzlich sein Studium abgeschlossen hat, verdient mit Bereitschaftsdienst 400 bis 500 Euro monatlich. Wenn er ein paar hundert Kilometer nach Österreich fährt, verdient er 3.000 Euro. Das können wir zwar nicht erreichen, die Löhne sollten in absehbarer Zeit aber verdoppelt werden. Dann kann man vielleicht die Abwanderung der Ärzte verlangsamen.

daStandard.at: Warum lassen die Parteien hunderttausende Menschen, die schon abgewandert sind, außer Acht?

Gyurcsány: In dieser Frage betreibt die Regierung eine unglaubliche Politik. Die Auslandsungarn, die in der letzten Zeit die ungarische Staatsbürgerschaft erhalten haben, dürfen per Brief wählen. Jene Ungarn hingegen, die vor Jahren wegen der Arbeit nach Österreich oder Deutschland gegangen sind, müssen nach Wien oder Berlin fahren oder ein Konsulat aufsuchen. Für sie ist es viel mühsamer, an der Wahl teilzunehmen, als für jene neuen Staatsbürger, die in den letzten Monaten oder ein bis zwei Jahren die Staatsbürgerschaft erhalten haben. Meines Erachtens ist das verfassungswidrig und unterscheidet in unfairer Weise zwischen Ungar und Ungar.

daStandard.at: Mit welchem Ergebnis rechnen Sie für die DK bei der Parlamentswahl?

Gyurcsány: 2014 bekommen wir sieben bis zehn Prozent aller Stimmen.

daStandard.at: Falls die DK den Einzug ins Parlament verpasst, was machen Sie in Zukunft?

Gyurcsány: Das ist dann wahrscheinlich unser Ende. Ich glaube nicht, dass man vier Jahre außerhalb des Parlaments aushalten könnte. Wenn die DK ein Ende findet, dann ist wohl meine politische Karriere auch zu Ende. (Balázs Csekő, daStandard.at, 7.10.2013)