Der Belgier Nathan (vormals Nancy) Verhelst, der sich weder im Körper einer Frau noch in dem eines Mannes wohlfühlte und als letzten Ausweg nur noch den Tod sah, löste eine neue Ethikdebatte in Belgien aus.

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Aktive Sterbehilfe, also das gezielte Herbeiführen des Todes durch geschultes Personal, ist in Belgien seit Jahren erlaubt und mittlerweile gesellschaftlich weitgehend akzeptiert. Der Fall des 44-jährigen Nathan Verhelst, der sich nach einer missglückten Geschlechtsumwandlung die Todesspritze setzen ließ, löste allerdings eine neue Debatte aus, ob und in welchen Fällen Euthanasie vertretbar ist.

Gesellschaftliche Debatte

Nathan hieß ursprünglich Nancy, bevor er sich nach langer Leidensgeschichte und 40 Jahren in einem Körper, in dem er sich nicht wohlfühlte, zu einem Mann umoperieren ließ. Er begann eine Hormontherapie, ließ sich die Brüste abnehmen und erhielt einen chirurgisch geformten Penis. Mit dem Ergebnis der mehr als dreijährigen Umwandlung war er aber alles andere als glücklich.

"Ich war bereit, meine Neugeburt zu feiern, aber als ich in den Spiegel blickte, ekelte ich mich vor mir selbst", sagte der von Depressionen geplagte Verhelst der Tageszeitung "Het Laatse Nieuws". Als letzten Ausweg sah er wegen "unerträglichen psychischen Leidens" nur mehr den Tod - der ihm in einer Brüsseler Klinik auch gewährt wurde.

In den belgischen Medien brach daraufhin eine Debatte aus, ob der Tod auf Wunsch wirklich die richtige Antwort auf Verhelsts Leiden gewesen sei - unheilbar krank war er schließlich nicht, wenngleich er selbst das so empfunden haben mag. Die Entscheidung über die Gewährung von Sterbehilfe ist insbesondere bei psychisch Kranken problematisch, weil die Willensfreiheit krankheitsbedingt nicht immer gegeben ist - die Frage ist jedoch, wo man ethische, rechtliche und praktische Grenzen zieht.

Liberale Gesetzgebung trotz ethischer Bedenken

Belgien ist in Fragen der Sterbehilfe neben den Niederlanden und Luxemburg eines der liberalsten Länder der Welt. Seit dem Jahr 2002 hat hier jeder unheilbar kranke und unter Schmerzen leidende Erwachsene das Recht auf den selbstgewählten assistierten Tod, wenn er den Wunsch danach mehrmals bei vollem Bewusstsein und ohne äußere Zwänge äußert.

Bevor die Sterbehilfe gewährt wird, sind mehrere medizinische Gutachten und Untersuchungen nötig. Eine wertneutrale Beurteilung ist laut dem Medizinethiker Michael Peintinger, der an der Med-Uni Wien lehrt und die Ethikkommission am Krankenhaus Göttlicher Heiland leitet, allerdings fast unmöglich: "Wirklich unvoreingenommen ist niemand. Ein Psychiater, der der Sterbehilfe gegenüber aufgeschlossen ist, könnte natürlich ganz anders urteilen als ein eher skeptischer Kollege."

Selbstbestimmte Entscheidung?

Der Fall des Nathan Verhelst sei zudem extrem plakativ und lenke aufgrund der Transgender-Vorgeschichte vom Kern des Problems ab. "Grundsätzlich geht es ja nicht um die Frage, wie es zur Depression kommt, sondern ob ein psychisch Kranker grundsätzlich die Möglichkeit haben sollte zu sterben", sagt Peintinger. Obwohl Verhelst über sechs Monate hinweg seinen Sterbewunsch geäußert habe und von mehreren Gutachtern untersucht worden sei, bleibe die Frage offen, wie selbstbestimmt er in seiner Entscheidung schlussendlich war.

Auch Christian Kopetzki, Professor für Medizinrecht an der Universität Wien, hat Bedenken: "Der Begriff des 'unerträglichen psychischen Leidens' ist natürlich elastisch. Wenn jemand an einer psychischen Störung oder einer unerträglichen Drucksituation leidet, ist fraglich, ob sein Todeswunsch wirklich selbstbestimmt ist." Das sei eine schwierige ethische Frage - theoretisch, denn rechtlich stellt sie sich in den meisten Ländern ohnehin nicht.

Aktive und passive Sterbehilfe

In Österreich etwa ist die Tötung auf Verlangen wie auch in Deutschland und der Schweiz verboten und wird mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft. Nicht so die passive Sterbehilfe, zu der das Absetzen von künstlicher Ernährung oder Medikamentengabe zählt, ebenso wie das Abschalten von Beatmungsgeräten und das Unterlassen einer notwendigen Reanimation. Sie ist gegen den Willen des Betroffenen zwar unzulässig, ansonsten aber nicht ausdrücklich verboten.

Auch die indirekte Sterbehilfe, also die potenzielle Verkürzung der Lebenszeit infolge einer Therapie mit nebenwirkungsreichen oder überdosierten Medikamenten, ist bei Einwilligung des Patienten in Österreich legal. Häufig wird damit versucht, das Sterben möglichst würdevoll und schmerzfrei zu gestalten - der Tod selbst wird dabei nicht direkt aktiv herbeigeführt, sondern lediglich als Nebenwirkung einer (Schmerz-)Behandlung in Kauf genommen.

Steigende Akzeptanz

Während Sterbehilfe in der heimischen Politik derzeit allenfalls noch im Wahlkampf thematisiert wird, scheint sich die öffentliche Meinung langsam zu wandeln. Laut einer Studie der Med-Uni Graz aus dem Jahr 2010 befürworten 78 Prozent der Österreicher die passive und 62 Prozent sogar die aktive Sterbehilfe.

In früheren Studien aus den Jahren 2000 und 2006 war die Akzeptanz der aktiven Sterbehilfe mit lediglich 49 Prozent deutlich geringer. Vor allem Männer und Personen mit einer liberalen Weltanschauung sprachen sich zuletzt aber deutlich für die Zulassung der Sterbehilfe aus. Auch im restlichen Europa gehe die Entwicklung zunehmend in die Richtung steigender Akzeptanz und Entkriminalisierung, sagt Peintinger.

"Kein Handlungsbedarf"

Die derzeitige österreichische Gesetzgebung sei zwar streng, aber sehr präzise. "Wir haben in Österreich eine sehr eindeutige Regelung mit wenigen bis keinen Grauzonen", so Peintinger. Er sieht keinen akuten Handlungsbedarf, auf kurz oder lang werde die Politik aber auf die zunehmende Akzeptanz der Sterbehilfe in der Bevölkerung reagieren müssen.

Momentan erkennen aber sowohl Peintinger als auch Kopetzki einen gesellschaftlichen und "erstaunlich breiten" politischen Konsens gegen die aktive Sterbehilfe. "Ich sehe derzeit keine Bewegung und auch keinen Bedarf, die Gesetzgebung zu verändern oder zu liberalisieren", sagt Kopetzki.

Kein Menschenrecht auf Sterbehilfe

In Österreich wird die Selbstbestimmung laut Kopetzki vor allem im passiven Bereich ohnehin sehr ernst genommen, etwa durch die Möglichkeit von Patientenverfügungen oder die Verweigerung von Bluttransfusionen. "Es ist ein qualitativer Unterschied, ob ich nur verweigere, dass mich ein Dritter gegen meinen Willen rettet, oder ob ich verlange, dass er mich aktiv tötet", differenziert Kopetzki.

Er verweist auf den Fall der unheilbar kranken Engländerin Diane Pretty, die im Jahr 2002 versuchte, das Recht auf einen selbstbestimmten Tod einzuklagen. Die Klage wurde abgewiesen mit der Begründung, dass es zwar grundsätzlich das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben und Lebensende gebe, dieses aber aus verschiedenen Gründen vom Staat beschränkt werden dürfe. Vor allem der Schutz vor Missbrauch, vor voreiligen Entscheidungen und vor den Einflüssen Dritter gab letztendlich den Ausschlag und - für Kopetzki korrekt - nicht die religiöse These, dass das Leben absolut heilig ist.

In Belgien ist laut jüngsten Umfragen die Zustimmung zur aktiven Sterbehilfe jedenfalls ungebrochen hoch - 75 Prozent sprachen sich sogar dafür aus, das Recht auf Sterbehilfe auf Minderjährige auszuweiten, wenn diese unheilbar krank sind. Im belgischen Parlament wird unterdessen eine schärfere oder zumindest präzisere Regelung diskutiert, damit Grauzonen vermieden und über Grenzfälle wie jenen des Nathan Verhelst künftig eindeutiger entschieden werden kann. (Florian Bayer, derStandard.at, 10.10.2013)