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Johannes Kopf: "Viele beherrschen Basisfertigkeiten wie Lesen, Schreiben, Rechnen und Grüßen auch unmittelbar nach der Schule nicht."

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In Österreich können 960.000 der 16- bis 65-Jährigen nur schlecht oder gar nicht lesen, hat eine OECD-Studie ergeben.

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Für Johannes Kopf, Chef des Österreichischen Arbeitsmarktservices, ist das schlechte Abschneiden der Österreicher bei der PIAAC-Studie, die unter anderem die Lesefähigkeiten von 16- bis 65-Jährigen testete, "erschreckend, aber keine Überraschung". Im Schulungsalltag des AMS bleibe es mitunter unbemerkt, dass Menschen nicht lesen können. "Viele von ihnen sind tadellose Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer." Kopf warnt jedoch im Gespräch mit derStandard.at: "Jobs für Leute ohne höhere Ausbildung verschwinden sehr schnell in Österreich und in ganz Europa."

derStandard.at: 17 Prozent der Österreicher zwischen 16 und 65 können nur unzureichend lesen. Ist das eine Überraschung für Sie?

Kopf: Es ist erschreckend, aber keine Überraschung. Es gab Hochrechnungen, die von deutschen Studien ausgingen, denen zufolge rund 15 Prozent der Österreicher nicht ausreichend lesen können.

derStandard.at: Es ist eine Aufgabe des AMS, Menschen für das Berufsleben weiterzuqualifizieren. Was tun Sie, um die Lesekompetenz Ihrer Kunden zu verbessern?

Kopf: Die Schwierigkeit ist, zu erkennen, wer nicht oder unzureichend lesen kann. Denn das Thema ist mit sehr viel Scham behaftet. Viele haben gelernt, ihre Nichtfähigkeit zu kaschieren. Kurstrainerinnen erzählen uns, dass es vielfach einen Monat dauert, bis sie erkennen, dass ein Kunde nicht lesen kann. Diese Personen haben sich sehr geschickt ein Unterstützernetzwerk aufgebaut. Sie brauchen im Alltag viele Menschen, die ihnen helfen. 60 Prozent der fast eine Million Österreicher mit unzureichenden Lesekenntnissen sind trotzdem berufstätig. Sie schaffen es dennoch, den Alltag zu meistern. Es ist für uns einfacher, Menschen mit Migrationshintergrund für Basisqualifizierungskurse zu gewinnen. Es ist sozial akzeptierter, dass man in einer anderen Sprache nicht lesen und schreiben kann.

derStandard.at: Wäre es denkbar, dass Sie nach dem Vorbild der PIAAC-Studie Lesetests mit Ihren Kunden durchzuführen?

Kopf: Generell jeden zu testen lehne ich ab. Die Gruppe ist nicht so groß, dass ich sage, ich teste jeden meiner Kunden, ob er lesen oder schreiben kann. Viele, die nicht ausreichend lesen können und arbeitslos werden, werden wir trotzdem vermitteln können. Oft bleibt es von uns unbemerkt, dass es an diesen Kompetenzen fehlt. Viele von ihnen sind tadellose Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

derStandard.at: Wie ist es möglich, dass so viele Menschen, die hier die Pflichtschule absolviert haben, nicht lesen können?

Kopf: Die Ergebnisse zeigen, dass viele Leute einmal lesen konnten, es jedoch wieder verlernt haben, weil sie im Alltag ohne durchgekommen sind. Das ist allerdings ein großes Problem, denn der Arbeitsmarkt ändert sich sehr schnell. Lebenslanges Lernen ist heute kein Schlagwort mehr, sondern eine Notwendigkeit. Das AMS hat für Jugendliche ein großes Auffangnetz, nicht nur weil es zu wenige Lehrstellen gibt. Viele beherrschen Basisfertigkeiten wie Lesen, Schreiben, Rechnen und Grüßen auch unmittelbar nach der Schule nicht. Das AMS ist eine Art von Reparaturanstalt.

derStandard.at: Wessen Verantwortung ist es, dass viele Leute diese Basiskompetenzen wieder verlernen?

Kopf: Zuallererst ist es die Verantwortung des Einzelnen, aber natürlich haben wir auch die Verantwortung für den Nächsten, und der Staat hat Verantwortung für den Bürger. Der Arbeitgeber hat jedenfalls eine fachliche Qualifizierungspflicht.

derStandard.at: Warum können oder wollen die Einzelnen dieser Aufgabe nicht nachkommen?

Kopf: Ich gehe von einem Menschenbild aus, in dem der Einzelne eine starke Eigenverantwortung hat. Ich muss Eigenverantwortung übernehmen in der Frage, wie trainiert mein Gehirn ist. Aber es gibt Menschen, die dazu wenig Gelegenheit haben - etwa wenn sie einer eintönigen Arbeit nachgehen. Die Freude am Lernen wird aber zu einem großen Teil in jungen Jahren gesät. Es muss sich auch das Schulsystem ändern. Etwa in der Frage, wie ich jungen Leuten Neugierde und Lernwillen beibringe.

derStandard.at: Die Studie zeigt aber auch, dass elterliche Bildungsbiografien fortgeschrieben werden.

Kopf: Deshalb sollten bereits im Kindergarten Leistungsfeststellungen gemacht werden. Ein zweites verpflichtendes Kindergartenjahr würde die Chancen der aus soziökonomischen Gründen Benachteiligten erhöhen. Und auch wenn es schwer ist für manchen Politiker: Wenn wir wissen, dass Kinder die Zweitsprache besser lernen, wenn sie die Muttersprache beherrschen, sollte man darüber nachdenken, in den Kindergärten zum Beispiel Türkisch zu unterrichten, etwa am Nachmittag. Wenn die Kinder besser gefördert werden, werden wir beim AMS sicher weniger Probleme haben und später leichter Lehrstellen für sie finden können.

derStandard.at: Minister Rudolf Hundstorfer hat vorgeschlagen, dass mehr Menschen in Bildungskarenz gehen sollten, damit sie sich besser qualifizieren. Hilfsarbeiter haben in der Regel aber kaum die Chance, in Bildungskarenz zu gehen.

Kopf: Bildungskarenz muss man sich leisten können, sie wird vor allem von jenen beansprucht, die eine hohe Bildungsaffinität haben. Wir hoffen jedoch, dass das neue Teilzeitmodell der Bildungskarenz verstärkt jene motiviert, die wir erreichen wollen. Dass etwa Hilfsarbeiter neben ihrer Teilzeitarbeit einen Lehrabschuss nachholen. Beim Teilzeitmodell ist der Verdienstentgang relativ gering.

derStandard.at: Hundstorfer will außerdem die Ausbildungspflicht bis zum 18. Lebensjahr erhöhen. Würde das zum Ziel führen?

Kopf: Ich halte es deshalb für eine gute Idee, weil wir wissen, dass es einen starken Zusammenhang zwischen Ausbildung und Arbeitslosigkeit gibt. Die Jobs für Leute ohne höhere Ausbildung verschwinden sehr schnell in Österreich und in ganz Europa. Selbst einfachere Lagerarbeiten verlangen heute etwa die Fähigkeit, mit Logistiksoftware arbeiten zu können. Einfache Jobs werden in der Regel komplizierter. Deshalb wäre mehr Bildung für die Jugend sehr wichtig. Man könnte auch darüber nachdenken, dass die Schulpflicht erst dann endet, wenn man lesen, schreiben und rechnen kann. Die Senkung der Zahl der "Early School Leavers" wird die größte bildungspolitische Aufgabe der nächsten zehn Jahre sein. (Katrin Burgstaller, derStandard.at, 8.10.2013)