Cambridge/Wien/Graz - Als im Haus von Martin Karplus in Cambridge (USA) am Mittwoch um fünf Uhr morgens das Telefon läutete, dachte er schon, dass etwas Besonderes ansteht. "Ich habe jedes Jahr gewusst, dass ich nominiert werde. Aber dass man es bekommt, ist eine Überraschung", freute sich der frischgebackene Laureat in einem Interview im Deutschlandfunk über seinen Nobelpreis. "Es ist wunderbar, dass ich diesen Preis gewonnen hab."

Immerhin wurden Karplus und seine beiden Mitgeehrten, Michael Levitt und Arieh Warshel, Ende der 1970er mit ihrer damals neuen Methode nicht ernst genommen. "Die 'echten Chemiker' haben nicht daran geglaubt", so der gebürtige Wiener in dem auf Deutsch geführten Interview. "Es hat halt gedauert, dass die Welt wirklich glaubt, dass wir so mit dem Atom spielen können und nutzbare Sachen herauskommen können."

"Echte Chemiker" erst spät überzeugt

Die Anfänge waren noch mühsam, erinnert sich der 1938 aus Österreich vertriebene Karplus: "Das erste Protein, das wir studiert haben, das hat lang gedauert. Wir haben das in Frankreich gemacht, weil nur in Frankreich war ein Computer, der groß genug war, dass man das machen konnte und das hat ungefähr einen Monat gebraucht, was man heute in einer Minute machen kann."

Mittlerweile werden die von den drei Laureaten entwickelt Programme, mit denen man chemische Prozesse auf dem Computer simulieren kann, laut Karplus in gut tausend Firmen und Universitäten eingesetzt. Denn heute würden auch Chemiker nach ihren Experimenten oft gefragt, ob es dazu auch Berechnungen gebe. "Das ist jetzt ein zentraler Part von der Chemie." Allerdings habe die Akzeptanz länger gedauert. "Ich glaube, es hat 25, 30 Jahre gebraucht, dass jetzt, wenn Sie so wollen, die 'echten Chemiker' glauben, dass es etwas ist, was man benützen kann." Das sei wohl der Grund, wieso er erst jetzt den Nobelpreis erhalten habe, so Karplus.

"Eine internationale Figur"

Der Grazer Biochemiker und frühere Präsident des Wissenschaftsfonds FWF, Christoph Kratky, bezeichnete den in Wien geborenen Chemie-Nobelpreisträger Martin Karplus als "immens intellektuellen Menschen" und "Wissenschafter mit dem richtigen Zug zum Tor". Kratky hat zwischen 1976 und 1977 als Post-Doc an der Harvard University (USA) mit Karplus zusammengearbeitet.

Karplus war damals gleichzeitig in Harvard und in Paris tätig, "ist da hin und her gependelt und war daher für mich nicht so wahnsinnig sichtbar", erinnert sich Kratky. Die damalige gemeinsame Arbeit drehte sich um theoretische Kraftfeld-Berechnungen an Proteinen, bewegte sich also im Umfeld dessen, wofür er heute die Auszeichnung zuerkannt bekam.

Karplus' grundlegende Arbeiten zur Berechnung der Prozesse, die in biologischen Makromolekülen stattfinden, hätten zu wichtigen Forschungswerkzeugen geführt, "die überall auf der Welt verwendet werden. Das ist heute das tägliche Brot von vielen Personen, die sich mit der Struktur und Funktion von Biomolekülen beschäftigen", so der Ex-FWF-Präsident.

Karplus sei "eine internationale Figur", und würde als solche natürlich an viele Universitäten eingeladen. "Da war er natürlich auch gelegentlich in Wien, aber seine Beziehungen zu Österreich sind sehr rudimentär", so Kratkys Einschätzung, der sich an eine Begegnung vor mehr als 15 Jahren in Wien erinnert.

"Auf jeden Fall die richtige Person"

Für Rolf Breinbauer, Leiter des Instituts für Organische Chemie an der Technischen Universität (TU) Graz, ist die Preisvergabe an Karplus "höchst verdient". "Wenn man einen Biokatalysator, der einen chemischen Prozess katalysiert, nur mit der Quantenmechanik rechnen würde, wäre das unlösbar, weil das ein Vielteilchenproblem ist - selbst mit den besten Computern in 50 Jahren würde das nicht gehen", so Breinbauer. Aber durch die von Karplus entwickelte sogenannte Hybridtechnik, bei der man das spezifische Problem mit der genauen Methode und das globale Umfeld mit der weniger genauen Methode modelliert, habe man ganz neue Einsichten ermöglicht.

Karplus hat hier schon sehr früh Computer ins Spiel gebracht, wofür er anfangs noch belächelt wurde, weil das klassische Experiment noch überlegen gewesen sei. "Aber mittlerweile ist die Methodik, die er entwickelt hat, durch den rasanten Fortschritt der Rechengeschwindigkeit von Computern so nützlich geworden, dass man Dinge auch vorhersagen kann", so Breinbauer.

Trotz seines hohen Alters sei Karplus noch immer sehr publikationsaktiv. "Von seiner Innovationskraft und seinem Output her ist er noch immer an vorderster Front. Martin Karplus als Person war schon immer ein Nobelpreiskandidat. Man hat nicht genau gewusst, für welche spezifischen Verdienste er den bekommen würde - aber das ist etwas, was uns alle freut, den Preis bekommt auf jeden Fall die richtige Person", betonte Breinbauer.

Töchterle und Mailath-Pokorny erinnern an Vertreibung

Sowohl Wissenschaftsminister Karlheinz Töchterle als auch der Wiener Wissenschaftsstadtrat Andreas Mailath-Pokorny hoben die Tatsache hervor, dass der Laureat 1938 aus seiner Geburtsstadt vor den Nazis flüchten musste. Dies verbinde Karplus mit anderen bekannten Schicksalsgenossen wie Teddy Kollek, Eric Kandel, Ruth Klüger, Ari Rath, Eric Pleskow, Frederic Morton oder Carl E. Schorske, so Mailath-Pokorny in einer Aussendung.

"Der Nobelpreis als weltweit bekannte Auszeichnung für Pionierarbeit und exzellente Forschung trägt dazu bei, der Wissenschaft ein Gesicht zu geben und sie im öffentlichen Diskurs weiter zu stärken. Als Wissenschafts- und Forschungsminister darf ich Martin Karplus herzlich gratulieren - auch im Bewusstsein der Geschehnisse von 1938", so Töchterle in einer Stellungnahme. Er sehe diesen Nobelpreis auch "als Ansporn, in unseren Bemühungen um die weitere Stärkung des Wissenschafts- und Forschungsstandortes Österreich nicht locker zu lassen", heißt es weiter.

Mailath-Pokorny betonte, dass mit der Flucht zahlreicher Persönlichkeiten aus Österreich von den Nationalsozialisten "ein geistiges Vakuum im Land hinterlassen" wurde, "das bis heute spürbar geblieben ist". Martin Karplus sei "ein wichtiger Teil jener geistigen Elite, die aus ihrer Geburtstadt Wien flüchten musste und in ihrer neuen Heimat kulturell, wissenschaftlich oder gesellschaftlich Herausragendes geleistet hat". Die Stadt Wien sei sich ihrer historischen Verantwortung bewusst und setze viel daran, "die Erinnerung an jene dunklen Kapitel der Geschichte lebendig zu halten". 

Fischer betont Österreichs Verantwortung

Auch Bundespräsident Heinz Fischer betonte in seiner Gratulation den Aspekt der Vertreibung von Karplus' Familie: "Mit Martin Karplus wurde nicht nur ein herausragender US-amerikanischer Wissenschafter mit dem heurigen Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet, sondern einmal mehr ein gebürtiger Österreicher, der aus seiner Heimat von den Nazis vertrieben wurde. Gerade im heurigen Jahr, in dem wir intensiv der schrecklichen Ereignisse vor 75 Jahren gedenken, ist diese Entscheidung des Nobel-Komitees erfreulich und gleichzeitig ein Anlass, über die Verantwortung Österreichs nachzudenken." (APA/red, derStandard.at, 9. 10. 2013)