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EPA/APA/Dorothea Mueller
Zürich - Die ersten Töne scheinen eher zu passieren. Sie schleichen sich zwischen das aus der Mitte der Musiker gesprochene Solo. Sie unterlaufen, mischen sich in die abreißenden Wortfetzen von Olivia Grigolli, der Anne zwei, die neben der Sopranistin Alexandra von der Weth und der Flötistin Maria Goldschmidt (alle drei in blonder Perücke und Trenchcoat) eine der Verkörperungen der Anne Desbaresdes aus Marguerite Duras' Kurzroman Moderato cantabile ist. Sie gehen das erste Mal jenes subtile Bündnis von Wort und Ton ein, das sie in den folgenden anderthalb Stunden im Zürcher Schiffbau nicht brechen werden.

"Er", der Unbekannte, Robert Hunger-Bühler, sitzt schon da. Auf einer der Bänke. Auch im Trenchcoat. Auch einsam. Ein Dutzend, von Annabelle Witt auf 50er-Jahre getrimmte Gestalten (das Vokalensemble Zürich) erklimmen wie Erinnerungstaggespenster langsam die endlos lange Galerie-Promenade, die schon das Wesentliche von Bettina Meyers Bühnenbild ausmacht. Beat Furrers Musik der Sprachlosigkeit breitet sich aus, jenseits jeder erkennbar narrativen Linie. Sie scheint wie geschaffen für Marthaler. Klänge ragen wie Eisbergspitzen ins Hörbare.

Tröpfelnde Laute

Auf den vier Bänken: Erstarrungen, Begängnisse, unvermutete motorische Kurzausbrüche. Dazwischen immer wieder: Vokalisieren, Wimmern, gedämpfte Schreie, Töne als Grenzgängerei zum Schweigen oder zum Atmen hin. Tröpfelnde Laute, Wortfetzen, auch aus Texten von Juan de la Cruz, Cesare Pavese und Ovid. Ab und zu mal ein lautes Aufbäumen als einzelner Orchestergroßklang. Dann wieder eskaliert das Rumoren.

Er verfolgt sie am Geländer. Bei Duras entfaltet sich der Aufbruch der Anna aus ihren Verhältnissen im Dialog mit ihrer Zufallsbekanntschaft im Café. Da, wo jener Mord passierte, der die Klavierstunde ihres Sohnes störte. Weil die Frau, die vermutlich auf ihren Wunsch hin erschossen wurde, einen Schrei ausstieß.

Der Flügelschlag als Fanal, der auch Anne aus der Fassung brachte. All das kommt aber bei Beat Furrer nicht vor. Der 1954 in der Schweiz geborene, erfolgreiche Wahlwiener stochert in seiner (nach Die Blinden, Narcissus und Begehren) vierten Komposition für Musiktheater jenseits des Greifbaren der Geschichte in den Subgefilden des Atmosphärischen.

Ein Haus, als knappes Zeichen beschirmender Bürgerlichkeit, gleitet über die Bühne und die Bänke. Das stört allerdings keinen. Die zwei Duette zwischen Sopran und Blockflöte und die wie Quasi-Rezitative der Erkennbarkeit gesprochenen Monologe und Dialoge sind in der Balance um die zentrale Vorletzte der acht Szenen gruppiert. Bei diesem Festmahl fährt Anna die Angst furios in die Glieder und stellt ganz unvermittelt die Verbindung zwischen Furrers Klangsprache und der Bewegung her, treibt sie auf eine der Bänke.

Da liegt sie wie eine verkaterte Gestrandete. "Er" macht dem ein Ende, indem er eine Violine zertrümmert und damit den Weg zurück in die orchestral sprechende Musik abbricht. Danach traut sich kein Ton wieder ins Orchesterklangbündnis zu einem anderen. Der letzte, quasi-rezitativische Dialog zwischen der Frau und dem Mann klingt hier wie eine Flucht zurück ins Schweigen und die gerade noch hörbare Tonlosigkeit. "Es ist so weit", sagt Anne. Aber was eigentlich, das bleibt letztlich offen.

Beat Furrer zelebriert als Dirigent mit dem Ensemble Opera Nova sein neues Opus der Vereinsamung und Traurigkeit selbst. Und zieht als Komponist gerade auch mit seinem Minimalismus in den Bann. Ein leises, aber dennoch zweifellos sehr starkes Stück Musiktheater! (Joachim Lange/DER STANDARD; Printausgabe, 05.08.2003)