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Die Kirche St. Theresa in Madalla nahe der nigerianischen Hauptstadt Abuja nach einem Bombenangriff von Boko Haram. Die Aufnahme stammt aus dem Jahr 2011.

Foto: REUTERS/Afolabi Sotunde/Files

Al-Kaida im Islamischen Maghreb, Boko Haram und Ansar Dine, prägen gegenwärtig die Berichte über Westafrika. Anfang des Jahres schickte die ehemalige Kolonialmacht Frankreich Truppen gegen den Vormarsch der jihadistischen Gruppen im Norden Malis. Doch das Auftauchen radikaler Islamisten ist historisch gesehen ungewöhnlich für den Westen Afrikas. In der Region herrschte jahrhundertelang ein sanfter, auf regionale Traditionen gestützer Islam. Ousmane Kane, Professor für zeitgenössische Islamstudien und islamische Politik an der Harvard Divinity School in Boston, spricht im Interview mit derStandard.at über historische Entwicklungen und aktuelle Bedrohungen durch radikale Gruppen.

derStandard.at: Der Islam in Westafrika hat sich anders entwickelt als in den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens. Wie wirkt sich das aus?

Kane: Die Verbreitung des Islam in Westafrika unterschied sich tatsächlich von der in anderen Gebieten. Sie ging sehr langsam vor sich, dauerte tausend Jahre. Nordafrika wurde sehr schnell von muslimischen Armeen erobert, während der Islam nach Westafrika durch den Handel kam. Hier war das ein friedlicher Prozess. Erst Im 19. Jahrhundert kam der Gedanke des Jihad auf. Ich bin mir aber nicht sicher, ob sich der Islam in Westafrika auch jetzt noch massiv von dem in anderen Regionen unterscheidet. Ab den 1970er Jahren tauchte das Phänomen des politischen Islam in den muslimischen Ländern und in muslimischen Gemeinschaften allgemein auf und verbreitete sich weltweit. In Westafrika trat die radikale Form des politischen Islam aber etwas später in Erscheinung.

derStandard.at: Heute prägen Boko Haram in Nigeria und Ansar Dine in Mali die öffentliche Wahrnehmung des Islam in Westafrika. Was hat deren Aufstieg begünstigt?

Kane: In den 70er und 80er Jahren begannen einige islamistische Gruppen grenzübergreifend zu missionieren. Eine davon war Tablighi Jamaat, gegründet in den 1920er Jahren in Britisch-Indien. Sie richtete sich an Muslime und wollte sie - gewaltfrei - auf den "richtigen Weg" zurückbringen. Zuerst gab Tablighi Jamaat vor, unpolitisch zu sein, um ungestört vorgehen und ihre Sichtweise der Religion verbreiten zu können. In Westafrika wird Religion als Privatsache und die Vermischung mit der Politik nicht gerne gesehen.

Die Vision von Tablighi Jamaat war und ist es, ihre Version eines reinen Islam zu verbreiten und die Gesellschaft entsprechend zu verändern - in Mali, aber auch in Ägypten und Frankreich. Diese Bewegung gab vielen Leuten Hoffnung, die ansonsten mit Missmanagement, Korruption und sozialer Ungerechtigkeit konfrontiert waren. Der Islam schien eine Alternative zu sein. Allmählich setzte sich die Meinung durch, dass ein Leben nach den islamischen Regeln Probleme lösen könnte, ein Leben nach den Regeln der Scharia. Das strenge Islamverständnis förderte eventuell auch islamistische Radikalisierungsprozesse.

derStandard.at: Einige Staaten im Norden Nigerias haben 1999 die Scharia als Rechtssystem übernommen.

Kane: In der Bevölkerung bestand die Hoffnung, dass etwa Probleme wie die Aids-Pandemie durch ein Prostitutionsverbot zurückgedrängt werden könnten oder die soziale Lage und die Verteilungsgerechtigkeit sind ändern würden. Im Jahr 2001 waren aber bereits viele Menschen sehr ernüchtert. Sie warfen den Verantwortlichen vor, eine "politische" statt einer "echten" Scharia als Blaupause für eine gerechte Gesellschaft zu leben, mit der sie nur eigene Interessen verfolgen und schwachen Teilen der Bevölkerung massiv schaden würden. Das führte zu den gewalttätigen Scharia-Konflikten in Nigeria.

derStandard.at: Eine der brutalsten islamistischen Terrorgruppen aktuell sind in der Region wohl Boko Haram. Steuert Nigeria auf einen Bürgerkrieg zu?

Kane: Ich kenne keine religiöse Gruppe im aktuellen Westafrika, die so erfolgreich den Staat herausfordert. In den letzten drei oder vier Jahren haben sie massive Gewalt über Nigeria gebracht, zahlreiche Regionen terrorisiert. Boko Haram hat zahlreiche Unterstützer in der Gesellschaft, ist hervorragend organisiert und hat profunde militärische Ressourcen. Man kann sie ohne weiteres mit den Taliban vergleichen. Boko Haram rekrutiert in Nordosten Nigerias erfolgreich Nachwuchs aus allen Schichten. Jede Woche sterben Menschen bei Angriffen. Kein Zweifel: das ist Bürgerkrieg. Nigeria hat eine machtvolle Armee und konnte nichts gegen diese Gruppe ausrichten. Den einzigen Ausweg, den ich sehe, ist, mit Boko Haram auch in Gespräche zu treten und zu sehen, ob man nicht durch Verhandlungen mehr erreichen kann.

derStandard.at: Im Norden Malis nehmen die Angriffe islamistischer Rebellen wieder zu. Am Dienstag sprengten Islamisten eine Brücke über den Niger bei dem Ort Bentia. Erstarken auch dort die islamistischen Gruppen wieder?

Kane: Militärexperten sind sich darüber einig, dass Terrorismus nie ganz vertrieben werden kann. Traurige Beispiele dafür kennen wir aus Afghanistan, Pakistan und dem Irak. Optimalerweise schafft man es aber, die terroristischen Gruppen zu beobachten, in Schach zu halten und zu verhindern, dass sie sich ausbreiten. Das verlangt aber eine Menge an Kreativität, die darüber hinausgeht, Drohnen einzusetzen. Eines der wichtigsten Mittel gegen Radikalismus ist Bildung. Viele Jahre lang wurde den radikalen Gruppen aber viel zu viel Raum gelassen. Die sozialen Umstände führten dazu, dass sich immer mehr junge Männer ihnen anschlossen. Seit Anfang des Jahrtausends konnte Al-Kaida im Maghreb ungehindert Menschen entführen und ihre Strukturen aufbauen. Sie hatten mehr als zehn Jahre Zeit, sich zu etablieren, Geldquellen anzuzapfen, Waffenlager und Satellitenüberwachung anzulegen, sich bei der Bevölkerung einzuschmeicheln. Die Franzosen planten die ganze Zeit schon, in Mali einzugreifen. Aber dann kam Libyen und dann die Wahl in Frankreich, dann war es etwas anderes. Man hätte viel früher eingreifen müssen.

derStandard.at: Ist Malis Regierung aktuell der Situation gewachsen?

Kane: Es ist eine große Herausforderung, allein schon deswegen, weil Mali ein Land mit einer riesigen Ausdehnung ist. Und man muss bedenken: Mali gehört zu den ärmsten Ländern, leidet unter Korruption innerhalb der Regierung, hat kaum Rohstoffe. Man hat ja gesehen, dass die Krise des vergangenen Jahres nicht ohne die militärische Unterstützung der Franzosen in den Griff zu bekommen war. Die einzige Möglichkeit, die ich sehe, ist, dass die Idee des malische Einheitsstaats vorangetrieben wird. Man muss natürlich eine kreative Lösung finden, die die Rebellen des Nordens einbezieht. (Manuela Honsig-Erlenburg, derStandard.at, 12.10.2013)