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Alain Platels dynamische und opulente Arbeit ist noch am Samstag in St. Pölten zu erleben.

Foto: EPA/JAVIER DEL REAL

St. Pölten - Was geschieht eigentlich mit den Bildern und Botschaften von Protestbewegungen, wenn sie zu Gegenständen von Kunstwerken werden? Aktueller Frageanlass ist das Stück C(h)oeurs des belgischen Choreografen Alain Platel, zu sehen am Samstag im Festspielhaus St. Pölten.

Der Personalaufwand ist beträchtlich in diesem Mix aus Tanz- und Musiktheater mit zehn Tänzern aus Platels Gruppe Les ballets C de la B, dem 80-köpfigen Coro Intermezzo des Madrider Teatro Real und dem Tonkünstler-Orchester Niederösterreich unter Marc Piollet. Die Musik zu der 2012 im Auftrag des damaligen Teatro-Real-Leiters Gerard Mortier entstandenen Produktion stammt von den Jubilaren Giuseppe Verdi und Richard Wagner.

Wobei: Mortier wurde mittlerweile gegen seinen Willen vorzeitig als künstlerischer Direktor abgesetzt. Der streitbare Belgier wird unter seinem Nachfolger Joan Matabosch als Berater weiter für das Haus arbeiten.

Alain Platel (54) ist jedenfalls eine der prominentesten Figuren der weltweit einflussreichen flämischen Tanzszene, zu der auch Anne Teresa De Keersmaeker, Wim Vandekeybus und Jan Fabre gehören. Madrid, die Stadt der Indignados, der Bewegung gegen die Auswirkungen von Spekulation und Sparkurs auf die spanische Bevölkerung, war der ideale Ort für den Versuch, diesen Protest auf die Ebene der Hochkultur zu heben. Dorthin also, wo viele der Verantwortlichen für die Krise ihren Feierabend verbringen. C(h)oeurs wurde vergangenen September auch in der EU-Hauptstadt Brüssel gezeigt.

Leid und Protest

Aber wozu? Werden die Proteste derer, die sich die teuren Karten für das dortige Théâtre de la Monnaie oder das Teatro Real nicht leisten können, durch Großproduktionen wie C(h)oeurs nicht ästhetisiert und verharmlost? Delektiert sich da nicht eine Elite in ihrem gepolsterten Gestühl an den Metaphern für das reale Leid derer, die durch das Wirken dieser Kaste Job und Wohnung verloren haben? Das ist sicher richtig.

Aber C(h)oeurs ist auch eine Irritation, eine Verzerrung des üblichen Hochkulturgenusses. Um diese Verzerrung geht es Alain Platel wohl auch, der sich Zeit seiner künstlerischen Biografie mit dem Verhältnis zwischen Hochkultur und sozialer Wirklichkeit beschäftigt hat. Das ist, wie etwa an Arbeiten wie VSPRS und Pitié zu sehen war, nicht immer gelungen. Aber manchmal, wie bei Moeder en kind, Wolf oder Out of Context dann doch. C(h)oeurs gehört dabei mit Sicherheit zu den geglückten Stücken in Platels Werkkatalog.

Die Musik passt klar zum Thema: Dies irae und Libera me aus Verdis Messa da Requiem, das Wacht auf! aus Richard Wagners Meistersingern oder der Chor der Gefangenen aus Nabucco und der Chor der Flüchtlinge aus Macbeth von Verdi gehören dazu. Die Tänzerinnen und Tänzer bewegen sich mit expressiver Kraft, und sie vermischen sich mit der Masse des klug und effektvoll choreografierten Chors. Körper in teils grotesker Verformung und Gesten des Widerstands, wie sie in Demonstrationen zu sehen sind, liefern die Symbole für den derzeit stattfindenden gesellschaftlichen Umbruch.

C(h)oeurs war übrigens im September auch auf 3sat zu sehen. Mit den üblichen Vorteilen wie den detailfreudigen Nahaufnahmen, aber auch den unvermeidlichen Nachteilen, vor allem der Ausschnitthaftigkeit einer Videoaufzeichnung. Wer's gesehen hat, sollte also auf die Live-Aufführung nicht verzichten. (Helmut Ploebst, DER STANDARD, 12./13.10.2013)