Das Buch birgt einige Brisanz. Umso mehr, als es von einem katholischen Theologen stammt: In "Pius XII. und die ­Judenrazzia in Rom" (Epubli, Berlin 2013) rekonstruiert Klaus Kühlwein die Ereignisse rund um die SS-Razzia, bei der am 16. Oktober 1943 1016 römische Juden festgenommen und deportiert wurden. Nur 16 überlebten den Holocaust.

Kühlwein forscht schwerpunktmäßig zur Geschichte des Vatikans während der NS-Zeit. Er hat nicht nur Zugangserlaubnis zum päpstlichen Geheimarchiv, sondern offenbar auch einflussreiche Helfer im Vatikan. Ihnen dankt er dafür, dass sie ihn "außerhalb des Dienstweges" unterstützten. Im päpstlichen Geheimarchiv fand er ein Dokument, das Pius XII. schwer belastet: einen schrift­lichen Hilferuf untergetauchter Juden an den Papst unmittelbar nach der Razzia.

Das Buch enthält ein Faksimile des Briefes. Das von sieben Personen unterzeichnete Schreiben ist sehr persönlich gehalten und erinnert den Papst an die Freundschaft seines Vaters mit einem Mitglied der jüdischen Gemeinde. Wörtlich heißt es: "Wir erflehen im Namen der Barmherzigkeit Eurer Heiligkeit, im Rahmen des Möglichen, Ihre sofortige und erhabene Intervention zur Linderung der Leiden der verlorenen Verhafteten und der gequälten Familien. Als Vater aller vertreten Sie über allen religiösen Glauben hinweg alle ihre Söhne."

Pius XII. hat darauf nicht reagiert, obwohl er, wovon Kühlwein überzeugt ist, Gefangennahme und Deportation der Juden nach Auschwitz hätte verhindern können. Er habe sich aber "zu sehr in diplomatische Vorsichten und Rücksichten verfangen, die ihn wie eine Zwangsjacke lähmten". Dabei ist Kühlwein fair genug, die von ­Pacelli initiierte Asylaktion für untergetauchte und flüchtige Juden in kirchlichen Häusern zu würdigen. So seien bis zur Befreiung Roms schätzungsweise 4000 Juden gerettet worden. Der jüngst verstorbene NS-Kriegsverbrecher Erich Priebke habe ihm persönlich bestätigt, dass die SS von den versteckten Juden gewusst, aber "die Souveränität der Kirche respektiert" habe.

Im Fall des 16. Oktober aber wirft der Autor Pius XII. moralisches Versagen vor. Am Ende des Buches "wagt" Kühlwein einen offenen Brief an Papst Franziskus: "Bitte beenden Sie den im Vatikan unterstützten Mythos über Pius XII. als Retter der Juden während der Razzia. Dieser Mythos verdrängt die Wahrheit, und er verhindert die aussöhnende Erinnerung. Eugenio Pacelli ist der Erste, der Ihnen aus dem Licht dafür dankt." Es scheint, als habe Franziskus das Buch genau gelesen. (Josef Kirchengast, DER STANDARD, 14.10.2013)