Hedi Argent, geborene Schnabl, war zehn Jahre alt, als sie mit ihrer Familie nach England flüchten musste.

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Die Gäste des JWS reisten unter anderem aus Israel, Argentinien, Peru, Australien, Großbritannien und den USA an.

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"Nehmen Sie doch auch ein Stück Sachertorte. Oder vielleicht lieber Gugelhupf?", fragt Hedi Argent. Die 84-Jährige sitzt gemeinsam mit rund 80 jüdischen ehemaligen Wienerinnen und Wienern, die aus ihrer Heimatstadt vertrieben worden waren, im Stadtsenatssitzungssaal des Wiener Rathauses. Sie sind auf Einladung des Jewish Welcome Service (JWS) aus aller Welt angereist. Die meisten von ihnen waren noch Kinder, als sie vor den Nationalsozialisten fliehen mussten. Die wenigsten kehrten jemals wieder nach Wien zurück.

Verhaltener Applaus

Gerade hat Stadtrat Christian Oxonitsch (SP) die Gäste zu einer "Wiener Jause" mit Kaffee und Kuchen empfangen und in seiner Ansprache erzählt, wie sehr sich die Stadt seit 1938 verändert habe. Dass heute wieder jüdisches Leben in Österreich existiere und man stolz darauf sei. Der Applaus ist verhalten.

"Es ist schwer, hier zu sein", sagt Hedi Argent in akzentfreiem Deutsch. "Aber es ist eine andere Generation, man kann nicht immer nur herumsitzen, man muss weitergehen. Ich hoffe, wir können alle weitergehen." Seit 74 Jahren lebt sie in England. Dass sie einmal im Wiener Rathaus Kaffee trinken würde, hätte sie nicht gedacht.

"Kein Platz für Juden"

1929 als Hedi Schnabl in Schwechat geboren, erinnert sich Argent noch genau an die Ereignisse des März 1938: Als eine von drei jüdischen Schülerinnen der Volksschule Schwechat wurde ihr bereits am Tag nach dem "Anschluss" Österreichs an NS-Deutschland der weitere Schulbesuch verboten. Es sei kein Platz für Juden, hieß es vom Direktor. Dem Vater wurde seine Anwaltskanzlei weggenommen, er musste unterschreiben, dass er sie freiwillig der "arischen" Konkurrenz überlasse. Auch die Schwechater Wohnung der Eltern wurde "arisiert", ein Parteimitglied der NSDAP zog ein.

Die Familie übersiedelte nach Wien, lebte vorerst in der leerstehenden Wohnung einer Bekannten, die Österreich bereits verlassen hatte. Der Vater, ein bekannter Strafverteidiger, erhielt eine Arbeitsgenehmigung als "juristischer Assistent" eines "arischen" Anwalts. Als er sich vor Gericht für einen Juden einsetzte, der einen Pass gefälscht hatte, um ausreisen zu können, wurde er auf der Stelle verhaftet.

Rettung vor der Pogromnacht

"Sechs Wochen lang haben sie ihn in die Roßauer Kaserne gesperrt", erzählt Argent. "Wir hatten große Angst um ihn, aber letztlich hatte er Glück im Unglück." Denn er hätte am Abend jenes 10. Novembers freikommen sollen, an dem die Novemberpogrome in Wien ihren Höhepunkt erreichten. Ein Wachebeamter, den er noch aus seiner Zeit als Anwalt kannte, warnte ihn davor, die Zelle zu verlassen. So blieb er freiwillig in der Kaserne, während draußen die Wiener Synagogen brannten, dutzende Jüdinnen und Juden ermordet und tausende verhaftet wurden.

Nach seiner Entlassung übersiedelte die Familie ein letztes Mal innerhalb Österreichs, nach Dornbach in den 17. Wiener Gemeindebezirk, wo eine Cousine der Mutter gelebt hatte. In der Innenstadt war es zu gefährlich, ständig kam es zu Übergriffen auf die jüdische Bevölkerung, erinnert sich Argent. Im Juli 1939 gelang es den Eltern schließlich, eine Ausreisegenehmigung nach England zu erhalten und Österreich mit Hedi zu verlassen. Bis heute lebt Argent in London, wo sie studierte und eine Familie gründete.

Lebensgeschichte weitererzählen

1968 kam sie einmal nach Wien, reiste aber umgehend wieder ab. "Als ich das erste Mal auf der Straße Wienerisch gehört hab, bin ich weggerannt", erzählt sie. "Ich habe es nicht ausgehalten." Der Jewish Welcome Service habe sie schon öfter eingeladen, nie wollte sie kommen. Diesmal sei es anders gewesen, erzählt sie. Der Wunsch, Wien noch einmal zu sehen, sei mit den Jahren stärker geworden. Auch um österreichischen Schulkindern ihre Lebensgeschichte erzählen zu können.

"Ich will Kindern berichten von damals, von meinen Erfahrungen in ihrem Alter", sagt Argent. "Nicht, um ihnen Angst zu machen oder Schuldgefühle zu geben, sondern um ihre Fragen zu beantworten. Kinder haben Fragen. In England mache ich das schon seit ein paar Jahren, aber hier in Wien – das ist natürlich etwas anderes."

Psychische Ausnahmesituation

Seit 1989 sind rund 3000 vertriebene Wiener Jüdinnen und Juden der Einladung des JWS gefolgt. Die – seit der Flucht oftmals erste – Reise nach Wien sei für viele Überlebende eine psychische Ausnahmesituation, sagt Susanne Trauneck, Generalsekräterin des Jewish Welcome Service (JWS). "Aber so schmerzhaft die Reise in die Vergangenheit auch sein kann, ist sie für Betroffene oft auch eine Form von Therapie." Auch deshalb sei die zweite und dritte Generation von Anfang an mit einbezogen worden. "Viele kommen mit ihren Kindern und Enkelkindern, und diese gemeinsame Erfahrung, die gemeinsame Spurensuche ist für die Familien immens wichtig", sagt Trauneck.

Der JWS organisiert die Wienreisen für jeweils eine Woche und bietet den Gästen ein strukturiertes Rahmenprogramm an. Am ersten Abend gibt es ein gemeinsames "Welcome Dinner", wo oft besonders viele Erinnerungen und Emotionen hochkommen. Das Zusammentreffen mit anderen Menschen, die Ähnliches erlebt haben, sei für die Betroffenen sehr wichtig, so Trauneck.

Offizielle Wahrnehmung

Im Lauf einer solchen Woche stehen einige offizielle Termine auf dem Programm: die "Wiener Jause" im Rathaus, ein Besuch beim Bundespräsidenten und manchmal auch im Bundeskanzleramt. Die offizielle Wahrnehmung sei auch für die Nachkommen der Vertriebenen sehr wichtig, gerade für die zweite Generation, die dem Land Österreich und dessen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit oft besonders kritisch gegenüberstünden, erzählt Trauneck.

Neben einem touristischen und kulturellen Programm sind für die Gäste auch Informationsveranstaltungen in Zusammenarbeit mit dem psychosozialen Zentrum ESRA ein Fixpunkt. Dabei wird den Gästen Hilfe und Beratung in sozialrechtlicher Hinsicht, aber auch bezüglich der Wiedererlangung der österreichischen Staatsbürgerschaft angeboten. Letzteres sei in den vergangenen Jahren auch zunehmend für die Nachkommen Überlebender ein wichtiges Thema geworden.

Keine Rückkehr

Für Hedi Argents Familie war eine Rückkehr nach Wien nie eine Option. "Der Vater wäre vielleicht zurückgegangen, aber für meine Mutter war es unmöglich", erzählt die 84-Jährige. "Sie wollte von Österreich nichts wissen, nicht darüber sprechen – sie hätte nicht einmal erlaubt, während einer Reise in Österreich umzusteigen. Und ich? Ich bin Londonerin." (David Rennert, derStandard.at, 16.10.2013)