"Russland den Russen", skandierten aufgebrachte Demonstranten am Wochenende auf Moskaus Straßen. Der Auslöser für den Protest war der Tod eines 25-jährigen Russen, der vor den Augen seiner Verlobten im Moskauer Stadtteil Biryulyovo vergangene Woche ermordet worden war. Nach der Tat versammelten sich am Sonntag tausende Menschen in Biryulyovo und forderten die Festnahme des Mörders sowie die Schließung des örtlichen Großmarkts, auf dem vor allem Menschen aus dem Süden Russlands, den Kaukasusrepubliken und Zentralasien arbeiten. Der Protest schlug in Gewalt um, zahlreiche Demonstranten randalierten auf dem Markt und in der Umgebung. 23 Menschen wurden verletzt, 380 Randalierer wurden vorübergehend festgenommen. Zur Beruhigung der Lage nahmen die Behörden am Montag bei einer Großrazzia gegen illegale Migranten rund 1.200 Gastarbeiter vorübergehend fest.
Zu den Ausschreitungen schweigt die Politik überwiegend. Die Staatsführung steckt in einem Dilemma, meint Russland-Experte Gerhard Mangott im Interview mit derStandard.at. Einerseits bilden sich Ressentiments gegen legale und illegale Arbeitsmigranten, andererseits braucht die russische Wirtschaft genau dieser Arbeitskräfte.
derStandard.at: Bei einer Großrazzia der Polizei in einem südlichen Stadtviertel von Moskau sind am Montag 1.200 Migranten festgenommen worden. Die Stimmung gegen Migranten ist aufgeheizt, doch wie hoch ist der Ausländeranteil in Russland überhaupt?
Mangott: Da es neben der legalen eine sehr starke illegale Migration gibt, ist das sehr schwer zu beziffern. Aber es dürften wohl zwischen 8-10 Millionen Arbeitsmigranten sein; der kleinere Teil davon ist legal im Land und hat eine Arbeitsbewilligung. Sie sind vor allem in der Bauwirtschaft und im Handel tätig. Was zu dieser legalen und illegalen Arbeitsmigration aus den zentralasiatischen Staaten, dem südlichen Kaukasus oder aus Moldawien hinzukommt, ist die Binnenmigration in Russland. Hier gibt es eine starke Arbeitswanderung vom nördlichen Kaukasus in städtische Zentren. Moskau ist der attraktivste Anziehungspunkt für Wanderarbeiter aus dem Kaukasus. In Moskau allein liegt der Anteil an legalen ausländischen Bewohnern bei rund 15 Prozent. Wenn man den Anteil der illegalen Arbeitsmigranten dazurechnet, ist der Ausländeranteil in Moskau ziemlich hoch.
derStandard.at: Die russische Föderation ist ein Vielvölkerstaat, viel von der Ausländerfeindlichkeit richtet sich also auch gegen russische Staatsbürger?
Mangott: Zweifellos! Die zentrale Losung dieser Demonstranten ist ja "Russland für die Russen" (Rossija dlja Russkich). Die russische Sprache unterscheidet zwischen „Russkij", damit ist ein ethnischer Russe gemeint, und einem „Rossijanin", das ist ein Staatsbürger Russlands unabhängig von seiner Ethnizität. Mit der Forderung "Russland für die Russen" meinen die Demonstranten die ethnischen Russen, und damit ist auch gemeint, dass Russland den nördlichen Kaukasus abstoßen sollte. Es gibt in der nationalistischen Bewegung auch den sehr populären Slogan "Hört auf, den Kaukasus zu mästen" (Chvatit kormit' Kavkaz), der ausdrückt, dass man sich von den nicht-ethnischen Russen im nördlichen Kaukasus distanzieren will. Kaukasier, wiewohl russische Staatsbürger, werden als Fremde wahrgenommen und als "Schwarze" bezeichnet. Es wird nahezu kein Unterschied gemacht zwischen inländischen Wanderarbeitern aus dem Kaukasus und ausländischen Migranten.
derStandard.at: In Paris gibt es die Banlieues, in deutschen Städten gewisse Problembezirke. Gibt es Vergleichbares auch in russischen Großstädten?
Mangott: Diese sozialen Brennpunkte gibt es auch in russischen Städten. Gerade der Stadtteil Biryulyovo im Süden Moskaus, in dem die Razzia gegen Migranten stattgefunden hat, ist von der Schwäche der lokalen Industrie geprägt, die am wirtschaftlichen Wachstum Moskaus nicht beteiligt ist. In diesen Arbeitervierteln, wo viele Bewohner vom sozialen Aufstieg der Mittelschicht nicht erfasst werden, lassen sich viele legale und illegale Migranten nieder, und das führt zu Spannungen an den sozialen Brennpunkten der Stadt.
derStandard.at: Die Politik in Russland reagierte verhalten auf die gewaltsamen Ausschreitungen. Gibt es denn keine Gegenöffentlichkeit gegen diese Form der Fremdenfeindlichkeit in Russland?
Mangott: Offiziell bemühen sich die Staatsführung und insbesondere Wladimir Putin, den multinationalen Charakter des Landes zu betonen. Er versucht, deutlich zu machen, dass Russland nicht ethnisch definiert werden kann, weil Russland aus vielen ethnischen Gemeinschaften und Nationalitäten und verschiedenen religiösen Konfessionen besteht. Putin versucht, eine patriotische Mobilisierung ohne ethnisch-nationalen Hintergrund zu erreichen; dies ist ihm zugutezuhalten. Tatsache ist aber, dass es einen starken ethnisch-russisch geprägten Nationalismus gibt und es keine harte offizielle Verurteilung von solchen Ausbrüchen der Gewalt gibt, weil man die Sorge hat, dass durch eine öffentliche Distanzierung gegen diese Form des Protests diese nationalistischen Strömungen noch mehr Zustimmung bekommen und sich der Eindruck verfestigt, dass der Staat nichts gegen illegale Migranten tut.
Der Staat fördert also einerseits eine multinationale Identität, ist aber bei der expliziten Verurteilung von ethnisch-nationalen Gewaltausbrüchen zurückhaltend, um nicht den Eindruck zu erwecken, sich nicht um die ethnischen Russen zu kümmern. Es ist auch bedauerlich, dass Teile der russischen Opposition sehr stark mit diesen ethnischen Gefühlen spielen. Alexej Nawalny, der bei den Bürgermeisterwahlen in Moskau 27 Prozent erreicht hat, bedient häufig diese ethnisch-nationalistischen Ressentiments. Er hat auch jetzt wieder angekündigt, eine Unterschriftenaktion für eine Visapflicht für Bürger aus den zentralasiatischen Staaten starten zu wollen.
Eine Art Gegenöffentlichkeit gibt es in einem nennenswerten Ausmaß nicht. Es gibt zwar sozialwissenschaftliche Institute, die sich mit Fremdenfeindlichkeit beschäftigen, aber das sind natürlich sehr leise Stimmen in einem sehr lauten und schrillen fremdenfeindlichen Diskurs.
derStandard.at: Als Reaktion auf die jüngsten Ereignisse überlegt die Staatsduma nun, die Gesetze besonders für die Einreise zu verschärfen. Wie sinnvoll ist das?
Mangott: Das Problem ist, dass vor allem illegale Arbeitsmigranten für bestimmte Branchen der russischen Wirtschaft sehr nützlich sind. Wenn eine Baustelle von Behörden kontrolliert wird, werden die Kontrolleure oft bestochen, damit sie die illegale Beschäftigung nicht ahnden. Die Korruption ist also ein wesentlicher Grund, warum staatliche Kontrollen nicht wirksam sind. Es ist daher nicht zu erwarten, dass Gesetze, wie sie nun in der Staatsduma überlegt werden, gegen illegale Migration wirksam sein werden, weil sie durch die Bestechlichkeit der kontrollierenden Behörden unterlaufen werden.
derStandard.at: Bei Gewalt gegen Migranten treten in Russland immer wieder Bürgerwehren in Erscheinung. Wer macht dort mit, und was sind die Motive dafür?
Mangott: Es gibt gerade in den Arbeiterbezirken das Gefühl, Modernisierungsverlierer zu sein, am starken Zuwachs der Reallöhne nicht beteiligt zu sein. Man fühlt sich von Ausländern am Arbeitsmarkt bedrängt und verdrängt. Gleichzeitig hat man das subjektive Gefühl hoher ausländischer Kleinkriminalität, gegen die die Polizei nicht wirklich viel unternimmt, weil sie sich bestechen lässt. Und diese beiden Motive, soziale Unsicherheit und (vermutete) hohe Kriminalität, sind der Anlass, diese Bürgerwehren zu gründen. Deren Ziel ist es, Verstecke von illegalen Arbeitsmigranten aufzuspüren und sie der Polizei zu melden und mit Patrouillen etwas gegen die Kleinkriminalität auszurichten.
Diese Bürgerwehren bestehen zwar zum Teil nur einige Monate und lösen sich dann wieder auf. Die Idee, dass man sich als Bürger gegen das, was man als bedrohlich und beängstigend empfindet, wehren muss, ist in Russland aber tief verwurzelt.
derStandard.at: Gibt es vonseiten der Betroffenen, also der Migranten und nicht-ethnischen Russen, einen Versuch, sich zu wehren?
Mangott: Nein, den gibt es nicht, weil niemand - nicht die legalen und erst recht nicht die illegalen Arbeitsmigranten - auffallen möchte, sondern sie die Möglichkeit nutzen wollen, in Russland Geld zu verdienen und es in ihre Heimatländer zu überweisen. Die Heimatländer dieser Migranten sind natürlich im Gespräch mit der russischen Staatsspitze über die Schwierigkeiten, aber das passiert ausschließlich auf der bürokratischen Ebene.
Ein Dilemma für die russische Führung ist, dass Russland diese Arbeitsmigranten braucht. Die Geburtenraten sind seit 1987 sehr stark gefallen und haben erst 2005 wieder zu steigen begonnen. Das heißt, es gibt am russischen Arbeitsmarkt eine Lücke an jungen Arbeitskräften, die in der postsowjetischen Ära aufgewachsen sind, und in den Wachstumsregionen macht sich das als Arbeitskräftemangel bemerkbar. Es ist ein Dilemma für die russische Politik, weil sich einerseits Ressentiments gegen legale und illegale Arbeitsmigranten bilden, andererseits die Anwesenheit genau dieser Arbeitskräfte benötigt wird. Das ist ein Konflikt, mit dem die Staatsführung umgehen muss und der nicht sehr einfach zu lösen ist. (Stefan Binder, derStandard.at, 17.10.2013)