Vor gut zwei Wochen hat Österreich einen neuen Nationalrat gewählt. Besser gesagt: Weniger als 60 Prozent der erwachsenen Wohnbevölkerung haben gewählt, wenn man die über zwei Millionen NichtwählerInnen und die fast eine Million Menschen abzieht, die zwar hier leben, Steuern zahlen usw., aber mangels StaatsbürgerInnenschaft nicht wählen durften (siehe dazu diese aufschlussreiche Grafik). Knapp mehr als die Hälfte von ihnen haben mit ihrer Stimme für SPÖ oder ÖVP für die nicht mehr ganz so große Koalition votiert, deren "neuer Stil" sich schon einmal in einem 26-köpfigen Verhandlungsteam manifestiert, in dem sage und schreibe vier Frauen mitreden dürfen.

Ein Fünftel setzte auf schlechte Reime und Autoerotik, knapp sechs Prozent investierten in eine Bad Bank und fünf Prozent in was Neos, eine Art ÖVP mit menschlichem Antlitz, wenn man von der Forderung nach einer Stärkung der EU-Festungswache Frontex samt schärferen Strafen für FluchthelferInnen (vulgo Schlepper) absieht - ein Punkt im Wahlprogramm, den man nach der Katastrophe von Lampedusa nun immerhin ändern will.

Zu professionell?

Und die Grünen? Die gewannen mit dem professionellsten Wahlkampf aller Zeiten zwei Prozentpunkte dazu und liegen nun mit 12,4 statt der angestrebten 15 Prozent immerhin im europäischen Spitzenfeld. Das möge bejubelt werden, darauf schwor uns die Parteispitze noch am Wahlabend ein, auch wenn vielen ganz offensichtlich nicht nach Jubel zumute war: weil die FPÖ dazugewonnen hat, weil die Fortsetzung des reaktionär-korrupten rot-schwarzen Stillstands droht, weil wir mehr wollten.

Wenn ich mir nun nach gut zwei Wochen eine selbstkritische - und damit meine ich ausdrücklich auch mich selbst - Rückschau erlaube, ziehe ich mir hoffentlich nicht den Vorwurf unserer Bundessprecherin zu, "Quatsch" zu reden, denn, so Eva Glawischnig zu einer meiner Meinung nach lesenswerten Analyse von Volker Plass: "Männer sind in der Analyse oft irrsinnig schnell und wissen schon am Tag nach der Wahl, was falsch gelaufen ist." Ich stelle hier einmal infrage, ob es feministisch ist zu glauben, dass Männer oder Frauen prinzipiell so oder so sind, aber das nur nebenbei.

Kalkül

Die Grünen haben einen sogenannten Erweiterungswahlkampf geführt. Das heißt: Mit den Kernbotschaften Bio und Korruption sollten vor allem jene angesprochen werden, die uns bisher nicht gewählt haben. Das Kalkül: Unsere StammwählerInnen, also grob gesagt jene, die eine ökologisch nachhaltige, sozial gerechte, weltoffene und menschenfreundliche Politik wollen, wählen uns mangels Alternative sowieso. Wir sprechen also vor allem jene an, die von Politik an und für sich und Korruption im Besonderen die Schnauze voll haben, Bio irgendwie lifestylemäßig gut und Eva, Kinder und Kuscheltiere nett finden.

Das ließen wir uns in Marktforschungen abtesten, kommunizierten in einem eigens definierten sogenannten Markenkanal (als Vorbild für die Notwendigkeit, die Grünen zu einer Marke zu machen, nannte man uns unter anderem die Hautcreme Nivea), zogen uns hellgrüne Softshelljacken (26 Euro, made in China) an, die besonders Fleißigen kauften sich sogar hellgrüne Uhrbänder und hellgrüne iPhone-Hüllen, und verteilten tausende "Bio macht schön"-Sackerln namens Sieglinde (made in India, trotz Billigstpreis von ca. ein Euro Fairtrade), die uns das Subproletariat am Viktor-Adler-Markt mit einer Intensität aus den Händen riss, dass wir diese Wahlen einfach gewinnen mussten.

Wir machten da mit, weil auch jene von uns - ich inklusive -, die Markenwahn, Uniformität, Lohas-Lifestyle, Politikfeindlichkeit und Inhaltsleere eigentlich zum Kotzen finden, auf die sagenumwobenen 15 Prozent oder mehr hofften, um endlich die rot-schwarze Mehrheit zu brechen, um endlich mitreden, mitbestimmen, mitregieren zu können und dann, dann, also nach dem 29. September, endlich auch über das reden und vor allem verhandeln zu können, worüber wir im Wahlkampf tunlichst nicht reden sollten, weil das die "Erweiterungspotenziale" und die meisten Massenmedien nicht hören wollen: gerechte Umverteilung mithilfe von Vermögenssteuern, bedingungslose Menschenrechte und Gleichstellung von Frauen und Minderheiten, Reform der rassistischen Fremden- und Asylgesetze, den sozialen und ökologischen Umbau der Gesellschaft.

Plakate

Auch unsere Plakatwelle war nach Ansicht fast aller ExpertInnen die professionellste aller Parteien. Rückblickend finde ich den meistkritisierten Claim "Weniger belämmert als die anderen" noch den besten: Erstens glaube ich, dass Politik mehr Selbstironie braucht, und wenn es damit gelingt, politikfrustrierte Menschen emotional abzuholen: umso besser. Zweitens glaube ich tatsächlich, dass die Wahl von Parteien die Wahl des geringsten Übels ist. Ich halte es für arroganten Luxus, von einer Partei so etwas wie Perfektion und hundertprozentige Übereinstimmung mit der eigenen Meinung zu verlangen - es geht doch verdammt noch mal darum, jene zu wählen, denen man am ehesten zutraut, die Lebensverhältnisse von möglichst vielen Menschen zu verbessern - also eben weniger deppert zu sein als die anderen. Das sind die Grünen jedenfalls, und deshalb ist der Spruch für mich angenehm ehrlich und authentisch.

Völlig unehrlich, unauthentisch und politikfeindlich war aber der Claim "Genug gestritten". Auch wenn er sich auf die unproduktive Blockadepolitik von Rot-Schwarz bezieht: Ja hallo, muss es nicht unsere demokratische Aufgabe sein, mehr zu streiten, nämlich konstruktiv und für etwas, nämlich unsere Ideale, Utopien und pragmatischen Lösungsvorschläge für konkrete politische Problemstellungen? Und natürlich auch für Kompromisse und den Ausgleich unterschiedlicher Interessen? Siehe dazu auch meinen Kommentar "Warum die Grünen streiten" vom Wiener Wahlkampf.

Der größte Fehler

Rückblickend glaube ich, dass das der größte Fehler unseres Wahlkampfs war: Wir haben nicht genug gestritten. Wir haben einen professionellen Wahlkampf mit einer bewundernswert professionellen und einsatzfreudigen Spitzenkandidatin geführt, wofür ich ihr und den vielen, die für uns gerannt sind, zu Dank verpflichtet bin. Aber es ist uns nicht gelungen, so etwas wie Leidenschaft zu entfachen. Weil wir selbst zwar super gebrieft, auf Kernbotschaften und Markenkanal eingestimmt und wahlkampflinienkonform - aber gerade deswegen über weite Strecken völlig leidenschaftslos waren. Weil es die meisten von uns eben zum Unterschied von anderen auszeichnet, zu einem gewissen Ausmaß nonkonformistisch zu sein.

Damit man mich nicht falsch versteht: Ich halte die Fokussierung auf wenige Themen und bis zu einem gewissen Grad auch auf eine Spitzenkandidatin, die Beauftragung professioneller Agenturen, eine wiedererkennbare Bildsprache und allgemein verständliche Botschaften für völlig richtig und notwendig. Und ich freue mich, dass es uns diesmal weitgehend gelungen ist, dass sich niemand aus reiner Geltungssucht mit sinnlosen öffentlichen Streitereien selbst produziert hat.

Aber gerade die Grünen und mit uns sympathisierende Milieus zeichnen sich dadurch aus, dass wir für Politik, für die gemeinsame Gestaltung von Gesellschaft, für Veränderung, für Solidarität, Individualität, Emanzipation und echte Demokratie brennen, jeder und jede auf seine oder ihre Art und kritisch gegenüber Bevormundung, Autoritarismus und Uniformierung. Das ist das, was uns ausmacht, und dafür gibt es Mehrheiten - wenn man sie sich erkämpft und erstreitet, wenn man leidenschaftlich und überzeugend um Empathie, Mitgefühl, Respekt für Umwelt, Mitmenschen und nachfolgende Generationen wirbt, zuhört, begeistert, scheitert, aufsteht, protestiert, über sich selbst lacht und sich entschuldigt, wenn man Scheiße gebaut hat.

Ich weiß nicht, ob wir damit mehr oder weniger als die erzielten 12,4 Prozent erreicht hätten, wenn wir uns zum Beispiel getraut hätten, lauter über die extremen Einkommens- und Vermögensunterschiede zu reden, über Armut, Ausgrenzung großer Bevölkerungsteile von der Teilhabe am öffentlichen Leben, über Konflikte im Zusammenhang mit Migration oder alltägliche Probleme wie Teuerung, Arbeits- und Perspektivlosigkeit, Bildungsmisere und Wohnungsnot. Aber wir hätten damit mindestens ebenso viele Menschen emotional erreicht wie mit Kuscheltieren - und bei manchen von ihnen wäre der Funke der Leidenschaft übergesprungen.

Und sie hätten dann vielleicht sogar ihre FreundInnen, ArbeitskollegInnen, Tanten, Großväter und Kinder angerufen und gesagt: Wählts bitte die Grünen, die sind voll arg, die wollen echt was. Und glaubts nicht alles, was in der Zeitung steht über die Mariahilfer Straße und die Flüchtlinge im Servitenkloster, und glaubts auch nicht, dass die Grünen alle Probleme lösen werden, das müsst ihr schon selbst auch in die Hand nehmen, aber wählt sie diesmal, damit wir das Feld nicht den Geldsäcken und den Hetzern und den Feiglingen überlassen. Ich weiß nicht, wie viele das sind, die das tun würden, ich weiß nur, dass wir genau die diesmal nicht angesprochen haben und dass das genau die sind, die wir brauchen, um gemeinsam für ein besseres Leben zu kämpfen. Ich jedenfalls habe eine grüne Softshell-Jacke mit Parteilogo zu verschenken. Made in China, der Abschied fällt mir nicht schwer. (Leserkommentar, Klaus Werner-Lobo, derStandard.at, 16.10.2013)