"Es gab noch nie so viele Langzeitüberlebende", sagt Krebsexperte Richard Greil.

Foto: Richard Greil

Von 18. bis 22.10. findet in Wien die Jahrestagung der Deutschen, Österreichischen und Schweizerischen Gesellschaften für Hämatologie und Onkologie, die sogenannte DGHO- und ÖGHO-Jahrestagung, in der Messe Wien statt. DGHO-Konfresspräsident Richard Greil gab einen kurzen Ausblick auf wichtige Themen.

STANDARD: Sie sind dieses Jahr DGHO-Präsident und haben Armut und Krebs zum Thema gemacht. Warum?

Greil: Bei Krebs gibt es eine viel zu wenig beachtete sozioökonomische Komponente. Viele Studien zeigen, dass bei Menschen aus weniger vermögenden Gesellschafts- und Bildungsschichten Krebs häufiger auftritt, die Erkrankungen schlechter verlaufen und die Überlebenszeiten kürzer sind.

STANDARD: Woran liegt das?

Greil: Es ist auch eine Frage der Bildung. Menschen aus sozial benachteiligten Schichten haben ein höheres Risikoverhalten, weniger Wissen über gesunde Lebensführung, und sie gehen selten zu Vorsorgeuntersuchungen. Zudem erkennen sie Warnsymptome viel schlechter, kommunizieren sie dem Arzt deshalb auch nicht, und so bleiben Erkrankungen unentdeckt. Wir Ärzte müssen uns dieser Fakten bewusster werden.

STANDARD: Inwiefern?

Greil: Damit wir in Gesprächen mit Patienten aktiver nachfragen und Symptome früher erkennen. Sonst werden Diagnosen erst in späten Stadien gestellt, und die Erfolgsaussichten sind schlechter. Zudem suchen sich diese Patienten auch nicht aus, wo sie behandelt werden.

STANDARD: Ist das Spital für den Therapieerfolg entscheidend?

Greil: Ja. Krebs ist eine komplexe Erkrankung. In Spezialzentren ist aktuelles Wissen gebündelt. Sie stehen für die bestmögliche Versorgung. Patienten mit niedrigem Bildungsniveau sind sich dessen weniger bewusst.

STANDARD: Der Vorteil wohnortnaher Versorgung ist, dass Patienten keine langen Anfahrtswege haben.

Greil: Das ist das Argument regionaler Spitäler. Krebspatienten wollen eine Behandlung auf dem letzten Stand des Wissens und nehmen Anfahrtswege in Kauf. Krebszentren sind in internationale Studien eingebunden und in der Lage, neue Medikamente und Verfahren anzubieten. Weil Tumorerkrankungen zunehmend differenziert werden, ist es für die Forschung wichtig, Patienten zu zentralisieren.

STANDARD: Welchen Konnex gibt es zwischen Krebszentren und Wissenschaft?

Greil: Wir haben in den letzten Jahren gesehen, wie vielgestaltig jede Krebserkrankung ist. Wenn wir Krankheiten erforschen, brauchen wir eine relevante Zahl von Patienten, die zum Beispiel an einer ganz bestimmten Form von Brustkrebs erkrankt sind. Das gelingt durch Zentralisierung in Zentren, die dann auch in weltweite Studien eingebunden werden können. Weil Krebs zunehmend in einzelne Untergruppen aufgesplittet wird, erforschen wir in Wirklichkeit viele seltene Untertypen von Erkrankungen. Damit steigen auch die Entwicklungskosten bei Medikamenten.

STANDARD: Wird Krebs nicht zunehmend eine chronische Erkrankung?

Greil: Wir leben in einer langlebigen Gesellschaft, jeder zweite Mann und jede dritte Frau erkrankt an Krebs, jeder vierte Mann und jede fünfte Frau stirbt daran. Durch moderne Behandlung sinkt die Mortalität um 1,8 Prozent pro Jahr. Es gab noch nie so viele Langzeitüberlebende.

STANDARD: Aber keine Heilung.

Greil: Doch, die gibt es, so viele wie nie zuvor. Krebs verläuft von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Es können zwischen 1000 und 1500 Genveränderungen an einer Erkrankungsart beteiligt sein, aber nur bis zu 150 Mutationen wurden als treibende Kräfte identifiziert. Wir wissen zu wenig. Es sind viele Zellen vom Krebsgeschehen betroffen. Wenn wir eine Biopsie nehmen, sehen wir nur einen kleinen Ausschnitt.

STANDARD: Doch genau nach diesem Zufallsausschnitt richtet sich ja die Behandlung.

Greil: Wir arbeiten daran, uns über die Abfallprodukte von Krebszellen im Blut wie zirkulierende Erbinformation ein umfassenderes Bild der Erkrankung zu verschaffen. Eine Chemotherapie richtet breiten Schaden in vielen Zellen an. Wir hoffen, dass wir Medikamente in Zukunft selektiver einsetzen - auch schon in frühen Stadien der Erkrankung. Heute werden zielgerichtete Therapien in Studien häufig nur in Spätstadien der Erkrankung getestet. Das wird sich ändern.

STANDARD: Ist Krebs noch eine tabuisierte Erkrankung?

Greil: Zunehmend weniger. Krebs ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Ein offener Umgang ist für Patienten und Ärzte gleichermaßen wichtig. Wer die Erkrankung verheimlicht, vereinsamt. Genau das gilt es zu verhindern. So lange wie möglich sozial eingebunden zu sein ist für den Behandlungserfolg entscheidend.

STANDARD: Hat Nationalratspräsidentin Barbara Prammer mit der Entscheidung, trotz Krebs weiterzuarbeiten, ein Beispiel gesetzt?

Greil: Das ist ihre persönliche Entscheidung, die hochrespektabel ist. Wir verfolgen diesbezüglich einen zunehmend individualisierten Ansatz - der gilt auch für den persönlichen Umgang mit der Krankheit. Dass man offen dazu steht, ist wichtig, weil es da ja auch um Glaubwürdigkeit geht. Wer jedoch wie und warum weiterarbeitet, hängt von Persönlichkeit, Arbeitsumfeld und Krankheitsstatus ab. Generelle Antworten gibt es nicht. (Karin Pollack, DER STANDARD, 18.10.2013)