Bild nicht mehr verfügbar.

Mehr Tote hat Frontex mitzuverantworten als Sir Francis Drake, die gefürchteten Bukanier der Karibik, der böse Blackbeard und die somalischen Küstenpiraten unserer Tage zusammen.

Foto: ap

"Mutter, ich kann nicht mit ansehen, wie du dich abschuftest, mach doch die Küchentüre zu", ulkte 1980 eine Band mit dem vielsagenden Namen Gebrüder Blattschuss in ihrem grausig-biederen Schunkelsong "Noch ein Toast, noch ein Ei, noch ein Kaffee, noch ein Brei". Der Auftakt deutscher Spaßkultur, an dessen zynischer Wahrheit sich die europäische Einwanderungspolitik ein Beispiel nahm. "Liebe Afrikaner", singt diese, "wir können nicht mit ansehen, wie wir euch ertränken, darum machen wir die Luken dicht."

Der Anblick der Wasserleichen ließ niemanden kalt. Ein breites Spektrum an Gefühlen löste er aus, von Ekel bis Betroffenheit. Gesellte sich zu dieser Empfindsamkeit ein normal funktionierender Verstand hinzu, so steigerte sich diese emotionale Gemengelage von Ekel zu Wut angesichts der von oben verordneten Betroffenheit aus den Präsidenten- und Kanzlerämtern der EU-Staaten. Es waren keine "Berufsdemonstranten", sondern die Einwohner von Lampedusa selbst, die den höchsten all der Betroffenen, die es nicht betrifft, José Manuel Barroso, mit "assassino" (Mörder) auf ihrer Insel begrüßten. Wie missverstanden musste sich der Präsident der Europäischen Kommission gefühlt haben, war doch die EU von ihren politischen Repräsentanten so lange als Friedensprojekt, als Hort der Menschenrechte und bürgerlichen Freiheiten gepriesen worden, bis sie es irgendwann selbst glaubten. Doch wo Licht, da Schatten, und die idyllische Weihnachtsstube kann nur warm gehalten werden, indem man die Fenster gut isoliert. Kein Wunder, dass dieses Erfolgsmodell so viele Wärmesuchende anzieht.

Die Kritik am Regime der missverstandenen Mörder bleibt zahnlos, solange sie bloß Humanität einfordert – als Almosen für die, die nicht so erfolgreich waren wie wir. Dass diese Kritik so paralysiert bleibt und sich nicht anders zu helfen weiß, als in die Moral zu flüchten, ist auch einer Selbstentwaffnung der Linken geschuldet. Wann immer man vor der Krise die systemische Mitverantwortung des reichen Nordens an dem Elend jener Regionen ins Treffen führte, die Hauptgrund der Migration ist, wurde einem die Kolonialismuskeule vorgeworfen und mangelnde Komplexität der Analyse. Das saß. Folglich scheute man, um nicht blöd dazustehen, die Formulierung jeder offensichtlichen Wahrheit wie die Katze das Wasser. Doch wie blöd stand man erst da, als ausgerechnet Insider der politischen Mitte klare Worte für die Gründe der zunehmenden Verelendung in Afrika fanden, während man selber im Labyrinth poststrukturalistischer Theoreme herumirrte. Wie etwa der prominente Whistleblower des Weltbank, Joseph E. Stiglitz, der die verheerenden Auswirkungen neoliberaler Strukturanpassungsprogramme in diesen Ländern eingestand. Und noch blöder stand man da mit er Einsicht, dass die systematische Zerstörung der lokalen Märkte im Subsahararaum durch Agrardumping und Exportpolitik der EU längst Lernstoff in den Schulen war.

Besitzstandswahrung durch Piraterie

Völlig logisch ist es, dass sich ein Exklusivklub wie die EU der Elenden erwehrt, die sich etwas von den Chancen zurückholen wollen, die man ihnen nicht nur verwehrt, sondern auch genommen hat. Folglich hält sich dieser Klub seit zehn Jahren eine Freibeuterarmada namens Frontex. Doch anders als die Freibeuter des frühen Kolonialismus, die mit Kaperbriefen der englischen Königin den Spaniern die Reichtümer abluchsten, die diese den Kolonien abgeluchst hatten, kreuzen die europäischen Hochseebarbaren vor der Barbareskenküste mit einem Kaperbrief, der ihnen erlaubt, den Verelendeten, die sich etwas vom Beutegut zurückholen wollen, die Hoffnungen und – wenn es sein muss – das Leben zu klauen. Denn von den Bewohnern der Müllhalden gibt es wenig zu holen. Umso mehr aber anzudrehen: tiefgefrorene Hühnerflügel zum Beispiel oder unseren Elektronikmüll.

Mehr Tote hat Frontex mitzuverantworten als Sir Francis Drake, die gefürchteten Bukanier der Karibik, der böse Blackbeard und die somalischen Küstenpiraten unserer Tage zusammen. Ihren mörderischen Aktionen gibt Frontex altgriechische Götternamen wie Hera und Poseidon, um auf das kulturelle Fundament des europäischen Gedankens zu verweisen – das in der Plünderung Trojas kulminierte. Völlig abgeschirmt von jeglicher demokratischer Kontrolle agieren diese Piraten im rechtsfreien Raum und verstoßen gegen internationales Seerecht, gegen die Europäische Menschenrechts- und die Genfer Flüchtlingskonvention. Nicht nur zwingen sie afrikanische Flüchtlinge durch ihre Seeblockaden zwischen Tunesien, Libyen und Italien die Todesroute über den Atlantik nach Spanien zu nehmen, sie drängen Flüchtlingsboote in ihre Herkunftshäfen ab, schieben aufgegriffene Glücksritter ohne Asylverfahren ab, verweigern in Seenot geratenen Booten die Hilfe, um Mutter Natur ihren Job tun zu lassen, oder stehlen ihnen Proviant und Treibstoff, um sie am Weiterfahren zu hindern. All dies in Kooperation mit nationalstaatlichen Küstenwachen und der Nato.

Dass nicht allein ein ökonomisches Gefälle zwischen Rom und Berlin, sondern auch ein zivilisatorisches besteht, darauf weist das Zeugnis des Chefs der italienischen Militärpolizei Saverio Manozzi hin, das er in Roman Herzogs Doku "Krieg im Mittelmeer" ablegte: "Als Italien sich mit einer Reihe weiterer Staaten an einen Tisch zusammensetzte, hat mich erstaunt, dass wir Italiener der illegalen Immigration rechtsstaatlich begegnen, indem wir zunächst Menschenleben retten und erst dann das Delikt ahnden. Andere Staaten benutzen den Begriff diversion, der bedeutet, die Menschen zu zwingen, nach Hause zurückzufahren. Es ist gar nicht so sehr die Tatsache, jemanden zur Umkehr zu zwingen, sondern wie man ihn dazu zwingt. Wir wurden bei offiziellen Treffen mit Einsatzplänen und schriftlichen Befehlen konfrontiert, laut denen die Abwehr der illegalen Einwanderer darin besteht, an Bord der Schiffe zu gehen und die Lebensmittel und den Treibstoff von Bord zu entnehmen, so dass die Immigranten dann entweder unter diesen Bedingungen weiterfahren können oder aber lieber umkehren." Und er fügte hinzu, dass es vor allem deutsche Verbände seien, die «die harte Linie praktizieren und den Flüchtlingsbooten Treibstoff und Lebensmittel» entnähmen.

Wer das Seerecht befolgt wie neulich einige beherzte Fischer aus Lampedusa, dem droht Anklage wegen Schlepperwesens. Exemplarisch dafür steht der jahrlange Prozess gegen Kapitän Stefan Schmidt in Italien, der im Juni 2004 37 Flüchtlinge aus Seenot gerettet hatte.

Der Schlepper selbst figuriert in dieser Posse als der Erzschurke, gegen welchen das Grenzregime sich als humanitäre Organisation darstellen will. Ob an Land oder auf See, er ist es, auf den wir den Ekel vor den Flüchtlingen umleiten sollen, die er uns zuscheucht. Dadurch können wir uns deren Abschiebungen als Akte der Menschlichkeit, Befreiung aus Schlepperklauen, als sanfte Rückführungen in Heimat und Familie schönreden, gleich der Refundierung gekidnappter Mädchen an ihre Eltern. Der Schlepper hat aus ihren Hoffnungen nach einem besseren Leben, die wir keineswegs zu erfüllen gedenken, kriminellen Profit geschlagen. Somit gleicht er unseren ökonomischen Ambitionen in den Herkunftsländern dieser Flüchtlinge. Mit der Zerschlagung von Schlepperbanden zerschlagen wir erfolgreich Spiegelbilder von uns selbst.

Der Schlepper also lässt die Unglücklichen für gutes Geld gegen die Festungsmauer fahren, die Europa aus Mitleid mit den Flüchtlingen nun noch höher ziehen will. Eine Woche nach der Katastrophe von Lampedusa ließ das Europaparlament in Straßburg Taten folgen und beschloss die Investition von weiteren 244 Millionen Euro in ein noch effizienteres Grenzüberwachungssystem namens Eurosur. Seit dieser Farce ist der Begriff der Heuchelei, welcher der Gesellschaftskritik für Jahrhunderte so gute Dienste geleistet hat, für immer als Euphemismus diskreditiert.

It’s war, stupid!

Die rassistische Einwanderungspolitik von EU und USA aber ist und bleibt die unmittelbare Konsequenz ihrer Wirtschaftspolitik. Wer dafür kämpft, zehntausend statt tausend Flüchtlinge in unseren Himmel hinüberzuretten, übersieht gerne, dass dieser ohne die Hölle, der jene entkommen wollten, keiner wäre. Er verbessert damit sein Gewissen, nicht aber die Welt. Zu langes Leben in der Konjunkturwellness macht es auch politisch denkenden Menschen schwer, das wahre Ausmaß eines Krieges zu erkennen, den die Krise auch mitten in Wohlfühl-Europa als den unerbittlichen Krieg der Reichen gegeneinander, vor allem aber der Reichen gegen die Armen kenntlich macht. Radikale Phrasen seien das – auch mit solcher Abwehr des Evidenten lässt sich das Gewissen beruhigen, solange Miete und Fairtrade-Bananen bezahlbar sind. Die Festung Europa aber zerbröselt von innen. Die Eliten der Besitzstandswahrung lassen Europas Peripherien mit ihrer verordneten Austeritätspolitik vor die Hunde gehen und ziehen sich in einen luxuriösen Panic-Room (Kerneuropa) zurück. Nach uns die Sinflut. Die Realitätsverweigerung liegt nun in der optimistischen Verleugnung der Sinflut und der mangelnden Einsicht, Boote bauen zu müssen, weil man im Panic-Room schon wie ehedem sein Plätzchen würde behalten dürfen. Wer meint, dieses System mit einigen punktuellen Veränderungen humanisieren zu können, gleicht einem höflichen Abschiebebeamten. Der Ansturm auf die Festung Europa ist nur mit Gewalt zu stoppen. Es werden mehr kommen, so lange, bis die Wasserleichen im Mittelmeer Pontons bilden, bis der Landweg also sicher ist, und dann werden noch mehr kommen, und die werden keinen Unterschied machen zwischen bösen Finanzspekulanten und Käufern von Fairtrade-Bananen ...

Die aktuelle Krise und ihre sozialen Folgen sind bloß die Ouvertüre zu einem neuen Kapitel in der Geschichte, welches noch umgeschrieben werden könnte, ehe es sich als Faschismus von selbst schreibt. Dazu jedoch müssten die Flüchtlinge aus Afrika und Asien, der südeuropäische Arbeitslose sowie die prekär lebende Akademikerin in Wien erkennen, dass sie im selben Boot sitzen. Um sich effektiv dagegen wehren zu können, dass ihnen weiter Lebensmittel und Treibstoff geklaut werden. Andernfalls wartet der Faschismus als Verblender der Verlierer und Besitzstandswahrer der Gewinner bloß auf seine Gelegenheit. Mit ihrer mörderischen Migrationspolitik poliert die EU ihm längst schon die Stiefel.