Ein unbewusstes Porträt des STANDARD: Der Kanal - die Herrengasse, der Gondoliere - Oscar Bronner -, die Gondel - DER STANDARD. Das verhüllte Paket waren die Weltnachrichten aus und für Jonasreindlhausen.

Zeichnung: Andrea Dusl

Andrea Maria Dusl, geb. 1961 in Wien, studierte u. a. an der Universität für angewandte Kunst. Sie ist Filmregisseurin, Autorin und Zeichnerin. Sie arbeitet u. a. regelmäßig für "Falter" und STANDARD. Zuletzt erschienen von ihr die Romane "Channel 8" (Residenz-Verlag 2010) und "Ins Hotel konnte ich ihn nicht mitnehmen" (Metro-Verlag, 2012).

Foto: Standard/Corn

Ich erinnere mich gut, aber nicht gerne an das Jahr, in dem ich 25 Jahre alt wurde. Ich war voller Tatendrang und Ideen und voller Sehnsucht, damit abgeholt zu werden. Aber es kam niemand.

Und weil niemand kam, mich abzuholen, setzte ich meine Ideen selbst in Fahrt und fuhr die Welt ab. In Gedanken und immer öfter auch wirklich, mit dem Zug. Die Welt, das war Mitteleuropa. Und es war geteilt. In einen sonnendurchfluteten Teil und in einen nebelig-trüben. Auch wenn die politischen Landkarten und einige Aspekte der ökonomischen Verhältnisse einen anderen Trug lieferten - Österreich lag größtenteils im trüben Teil Europas. Wien war eine graue Stadt. Bevölkert von Übriggebliebenen, Zugereisten und den Hacklern und Putzfrauen vom Balkan. Kolonisiert von trügerischen Partikeln amerikanischer Liberalität, unbedacht von der Peristaltik der Perestroika, durchsetzt von Kameralistik, diffus beleuchtet vom fahlen Schein sozialdemokratischer Zukunftsromantik. Dazwischen schrien studentische Säbelfechter und Altnazis nach Bier und Vergeltung.

Der Westen war woanders, er fing irgendwo hinter Gastein an, aber insgesamt war er weit weg, und er würde wohl nie bis Wien reichen. Wer sich für die Welt interessierte, für ihre politischen Temperaturen und die Farben, in denen ihre Ideen gemalt wurden, war auf Importe angewiesen. Italienisches Essen war so ein Gefühlstransfer und japanische Kameratechnik, brasilianische Schallplatten und belgische Zeichenkunst, amerikanische Alltagsästhetik und französische Gedankenakrobatik. Man träumte von Pirelliböden und dem Himmel über Berlin, von Running Sushi und Foucaults Pendel.

Um an Nachrichten zu kommen, musste man einen der Bahnhöfe aufsuchen, sich ins Kaffeehaus setzen oder zu einem der wenigen Kioske hirschen. Meiner stand am Schottentor, unter dem Dach der Haltestelle, beschattet von österreichischem Spannbeton. Hier gab es zu lesen, was die Welt zu sagen hatte, in den Drehständern steckten die internationalen Zeitungen, die Logos ihrer Titel waren so vertraut wie ihre Schlagzeilen fremd: Le Monde, El País, die Frankfurter, die Süddeutsche und die Zürcher, die New York Times und La Stampa, Dagens Nyheter (ich war ja eigentlich Schwedin) und der Melody Maker (ich war ja eigentlich Musikerin), das Time Magazine, das National Geographic, die rosarote Gazzetta dello Sport und die sandsteinfarbene Financial Times.

Es war längst an der Zeit, dass sich jemand für die Rezeptionsmechanik von Leuten meines Erkenntnishungers interessierte. Eine österreichische Tageszeitung in die Welt setzte, die diese tatsächlich zu beschreiben versuchte und sich nicht als Sammellinse kleinbürgerlicher Ressentiments oder als verlängerte Pressestelle großindustrieller Konzerninteressen begriff. Hatte Bruno Kreisky nicht immer eine liberale Tageszeitung für das illiberale Land gefordert? Und jetzt gab es diese liberale Tageszeitung! In einer angekündigten Plötzlichkeit trat sie auf den Markt, umhaucht von unbeholfenem Selbstbewusstsein. Sie musste so tun, als hätte es sie ewig schon gegeben, versuchte sie sich doch am hier nie Dagewesenen.

Offiziell lachsrosa genannt

DER STANDARD, an den Namen musste man sich erst gewöhnen, würde auf rosafarbenem Papier gedruckt werden, hieß es im Vorfeld seiner Einführung, rosa sein wie die Gazetta dello Sport, das italienische Diskursorgan für Männerbewegungen. Tatsächlich kam DER STANDARD aber financialtimesfarben daher, offiziell lachsrosa genannt. Dass man küchentechnisch ziemlich viel anstellen musste, um Lachs in die Papierfarbe des STANDARD zu überführen, stand nicht zu lesen und wollte auch gar nicht hinterfragt werden.

Wer an die opulente Dicke des Hamburger Schwergewichts Die Zeit gewöhnt war, empfand den STANDARD anfangs als dünnes Heftchen. Aber seine Redaktion residierte zunächt am Gestade und bald in der Herrengasse. Das Projekt war von einem respektablen Zeitungsmacher gegründet worden. Falls man das nicht wusste, wurde man auf Seite eins des STANDARD verlässlich daran erinnert.

In der inneren Logik meiner Privatreligion, des magischen Realismus, stimmten die Ingredienzien: Bruno Kreisky, Oscar Bronner, Lachs und Liberalität. Und wo sonst sollte ein liberales Blatt gemacht werden, wenn nicht zwischen Universität und Hofburg, den symbolischen Antipoden des Landes? Dass die Adresse in der Herrengasse nur einen Schneeballwurf vom Jonas-Reindl entfernt lag, dem Akquiseort meiner Kiosk-Lektüre, war nur allzu stimmig. Auch das hätte sich Weltenpendler Bronner ausdenken können, um mir zu gefallen.

DER STANDARD wurde meine Zeitung. Nicht weil er so gut war, sondern weil er diesen Anspruch hatte. Er traf damit in hochprivates Mark. Im STANDARD spiegelten sich meine eigenen Möglichkeiten. Was ich mir früher aus britischen Musikgazetten und amerikanischen Magazinen zusammenlesen musste, bereiteten jetzt andere für mich auf, wozu bisher ein anstrengender Hermeneutikmix heimischer und weltstädtischer Politikseiten notwendig war, das komprimierte mir jetzt DER STANDARD. Gewissermaßen machte DER STANDARD sogar die Fehler und Unterlassungen für mich und erlaubte mir damit die Bequemlichkeit einer zynischen Position als Beobachterin urbanen Scheiterns.

DER STANDARD, darin lag sein früh erkanntes Geheimnis, war eine Zeitung von Zynikern für Zyniker. Der Idealtypus einer österreichischen Publikation. Dem STANDARD gelang noch mehr, in einer Mischung aus Übermut und Verachtung besiedelte er die Halde des intellektuellen und pseudointellektuellen Diskurses. Seit den verklärten Zeiten des Forum war dieses Bergwerk der Eitelkeiten nicht mehr in Betrieb gewesen. Nun förderte es wieder und imitierte damit die Feuilletons der deutschsprachigen Großblätter. In letzter Konsequenz musste irgendwann das Telefon klingeln (Internet gab es noch keines), musste sich die Möbiusschleife des Interesses schließen.

Das Telefon klingelte. Am herrengassenseitigen Ende der Leitung saß Michael Freund und fragte um eine Zeichnung an. Es war ein großer Anruf für mich. Michael Freund hatte einst eine New-York-Reportage für das Zeitgeistheft Wiener verfasst. Die Begehung der soundsovielten Straße von Ost nach West. Michael Freund war also nicht die Herrengasse für mich, Michael Freund war Manhattan für mich. Und jetzt rief er an und wollte eine Zeichnung von mir. Für die Heftverdickung namens "Szenario". Wollte eine Zeichnung über den neuen Kabelkanal Arte.

Und weil Michael Freund Manhattan war, war es auch DER STANDARD, und damit trat die Weltweite des Westens in meine Obhut. Manhattan. Eastside. Westside. Der Broadway. Ich dachte an Christo und Jeanne-Claude und zeichnete eine venezianische Gondel, mit der ein mannsgroßes, von einem Tuch verhülltes Paket gerudert wurde. Ort des illustrativen Geschehens: ein enger Kanal.

Zur Verdeutlichung montierte ich noch einen Schreibenden in das gezeichnete Gleichnis. Der geheimnisvollen Gondel ansichtig greift sich dieser rätselnd an den Kopf. Die Metapherngeschwulst war unbewusst auch ein Porträt des STANDARD. Der Kanal - die Herrengasse, der Gondoliere - Oscar Bronner, die Gondel - der Standard. Das verhüllte Paket waren die Weltnachrichten aus und für Jonasreindlhausen.

Die Zeichnung erschien und knüpfte ein loses Band der gegenseitigen Achtung zwischen der zynischen Zeitung und seiner zynischen Leserin. Unsere Liebe füreinander sollte nie zu einem Verhältnis führen, aber immer von Großzügigkeit begleitet sein. Wann aus den Zeichnungen Texte wurden, weiß ich nicht mehr. In der Erinnerung zerfließt das Bild unserer Beziehung zu einem nebelnassen Aquarell.

An den Kiosk am Schottentor gehe ich nur mehr ab und an. Mein Drehständer ist seit knapp 20 Jahren das Netz. Dort hole ich mir auch den STANDARD ab. Seit es ihn gibt, jenseits der Gutenberggalaxis. Am STANDARD überrascht mich nur, dass er mich nicht überrascht. Auch wenn der STANDARD vom Bett des alten Ottakringer Bachs ans Ufer der Wien wechselte - würde eines Tages Oscar Bronner mit einer Gondel den Wienfluss runterrudern, mein Erstaunen wäre minimal. (Andrea Maria Dusl, Album, DER STANDARD, 19./20.10.2013)