Van der Bellen, Niss und Weber (von links) bildeten nach einer Absage ein Terzett im Oktogon der alten Creditanstalt.

Foto: Standard/Heribert Corn

STANDARD: Ich habe Ihnen die erste STANDARD-Ausgabe mitgebracht. Haben Sie eine Erinnerung an die Gründungstage?

Niss: Ich war damals zwar erst elf Jahre alt, aber ich kann mich dunkel erinnern, dass es etwas Neues gab. Eine Qualitätszeitung abseits der Presse.

Van der Bellen: Und nicht irgendeine, eine liberale noch dazu. Damals war die Presse ja ein bisschen klerikal, was ich heute nicht mehr sagen würde. der STANDARD war somit eine Erleichterung.

Niss: Die Gründung hat der Medienlandschaft sehr gutgetan. Angesichts der Defizite bei der Qualität gegenüber Zeitungen in Deutschland oder der Schweiz war das ein Lichtblick. Ob es sich für den Standard unternehmerisch ausgezahlt hat, kann ich allerdings nicht beurteilen.

STANDARD: Es gibt die Zeitung entgegen allen Prophezeiungen nach 25 Jahren immer noch.

Weber: Ich habe die Gründung weniger intensiv, aber mit einer gewissen Sympathie wahrgenommen. Ich hatte und habe die Neue Zürcher Zeitung abonniert, die die meisten für Österreich übers Regionale hinaus relevanten Inhalte gut abdeckt.

STANDARD: Vor uns liegt die erste Ausgabe, mit einer Aufmachergeschichte zur Europäischen Gemeinschaft. Auch die Verstaatlichte findet sich auf Seite eins. Die war insgesamt wohl das wichtigste Wirtschaftsthema Ende der 80er-Jahre.

Weber: Ich komme aus der Obersteiermark, dort habe ich die Veränderungen hautnah miterlebt. Das war ja eine schwierige Zeit für die Verstaatlichte, die vor allem in der Schwerindustrie tätig war. Die großen Probleme hatten - wie in ganz Europa - schon in den 70er-Jahren begonnen, auch weil für offensive Gegenstrategien die Erfahrungen auf internationalen Märkten und in neuen Bereichen fehlten. Genau hier traten denn auch die ersten großen Verluste auf.

Niss: Ich kenne das Thema natürlich nur aus den Geschichtsbüchern und Erzählungen. Die Verstaatlichte ist ja nach dem Krieg gegründet worden, um den Wiederaufbau voranzutreiben und die Industrie im Osten des Landes vor dem Zugriff der russischen Besatzung zu schützen. Ich glaube, das war eines Tages überholt. Heute weiß man, dass die öffentliche Hand kein guter Unternehmer ist, die Parteien noch weniger. Erst die Privatisierung hat die echte Erfolgsgeschichte von Unternehmen wie der Voest eingeleitet. Die heutige Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe und die Qualität der Produkte wurden vor allem in der Zeit nach der Privatisierung erreicht.

Van der Bellen: Ich habe bis zur Voest-Krise 1985/86 zu jenen gehört, die mit dem staatlichen Eigentum an den Produktionsmitteln sympathisiert haben. Dann hat ein Professor aus Israel bei einem Seminar in Harvard die These aufgestellt, ein verstaatlichtes Unternehmen habe gar keinen Eigentümer. Daraufhin habe ich mir ein paar Aufsichtsräte angesehen und musste feststellen: Er hat recht. Bei der OMV zum Beispiel saßen Gewerkschafter, Bürgermeister und Wirtschaftskämmerer im Aufsichtsrat. Der Eigentümer Bund war kaum vertreten und wurde zwischen den verschiedenen Interessen zerrieben. Daher war die Voest-Krise kein unglücklicher Zufall. Früher oder später wäre etwas Ähnliches gekommen. Unternehmen im internationalen Wettbewerb können mit diesen Strukturen nicht überleben.

STANDARD: Bei den in der Folge eingeleiteten Privatisierungen hat man den Eindruck, dass budgetäre Zwänge und nicht ideologische Konzepte ausschlaggebend waren.

Weber: Es gab auf der einen Seite den riesigen ökonomischen Druck, zum anderen ein großes politisches Problem: Man kann die Geschichte der Verstaatlichten ja nur verstehen, wenn man die politischen Verhältnisse nach dem Zweiten Weltkrieg berücksichtigt: die große Koalition und das Proporzsystem, schwarzer Direktor, roter Vize oder umgekehrt. Dazu kam der Einfluss der Gewerkschaften und der Regionen. Die 80er-Jahre in Europa waren geprägt von konservativ-liberalen wirtschaftlichen Ideen - Stichwort Thatcherism. Diese Einflüsse kamen über den Umweg der Krise der Verstaatlichten nach Österreich. Und an die Stelle der großen verstaatlichten Unternehmen traten meist kleinere private Einheiten.

Van der Bellen: Wenn Betriebsräte und Manager wissen, dass es in der Schieflage Hilfe vom Staat gibt, dann weiß man schon, was passieren wird. Ich möchte da die positive Rolle von Ferdinand Lacina hervorheben. Er hatte als zuständiger Minister den Scherben auf und konnte glaubhaft machen, dass man die Voest nicht den Bach runtergehen lässt, aber dass es das letzte Mal sein wird. Das hat auch funktioniert.

STANDARD: Für ein paar Jahre, dann kamen neue Rückschläge. Die hohen Amag-Verluste brachten die Pläne eines Börsengangs der Austrian Industries zum Platzen.

Niss: Ich denke, es macht Sinn, kurzfristig bedrohte Arbeitsplätze zu erhalten, wenn das Unternehmen im Prinzip richtig aufgestellt ist. Langfristig funktioniert das nicht. Wenn ich die Produkte nicht verkaufen kann, sind irgendwann auch die Arbeitsplätze nicht zu halten. Die Privatisierung hat dann viel Geld in die Kassen gespült und die Betriebe schuldenfrei gemacht. Verscherbeln macht keinen Sinn, aber die Beimischung von privatem Blut ist nicht so schlecht.

STANDARD: Das hat dann auch für Aufregung gesorgt, als Schüssel/ Grasser Vollprivatisierungen forcierten. Von der Austria Tabak ist heute nicht mehr viel zu sehen. Der Ausverkauf an ausländische Konzerne machte Schlagzeilen.

Niss: Allerdings hat sich die Tabakindustrie stark verändert, weltweit sind große Konglomerate entstanden. Da kann man schwer beurteilen, was passiert wäre, wenn man nicht privatisiert hätte. Wichtig ist halt, in die Zukunft zu investieren und nicht Arbeitsplätze zu subventionieren, die nicht zu halten sind.

Weber: Bei der Tabakindustrie ist auch die Rolle der EU zu berücksichtigen, die sich die Auflösung der nationalen Monopole auf die Fahne geheftet hatte. Heute ist das Transnationale normal und Nationale der Ausnahmefall. Im Übrigen finde ich, dass in etlichen Fällen der Einfluss ausländischer Unternehmen den früher verstaatlichten Betrieben Vorteile gebracht hat.

Van der Bellen: International zu expandieren und den Heimmarkt abzuschotten, finde ich kleinkariert.

Niss: Einen Unterschied macht aus, an wen Staatsbetriebe verkauft werden, ob jemand strategisch einsteigt und das Unternehmen weiterentwickelt oder ob das ein Hedgefonds ist, der nach ein paar Jahren gewinnbringend aussteigt.

STANDARD: Wir sitzen in der ehemaligen Creditanstalt, die 1997 privatisiert wurde. Der Verkauf an die Bank Austria hat die ÖVP am falschen Fuß erwischt.

Weber: Das ist eine ganz eigenartige Geschichte gewesen, die sehr eng mit der Politik verquickt war. Auf der einen Seite stand die SPÖ mit der Bank Austria, die aus Zentralsparkasse und Länderbank entstanden war, und auf der anderen ein zögerlicher neuer CA-Generaldirektor, der versucht hat, das Schwarze hineinzureklamieren, und damit auf die Nase gefallen ist. Es gab ja durchaus ausländische Interessenten, beispielsweise aus der Schweiz. Aber die CA war seit der Monarchie das Flaggschiff des österreichischen Geldwesens gewesen. Die wollte man nicht einfach ans Ausland verkaufen. Die besser zur ÖVP passenden Interessenten waren aber nicht in der Lage, eine für sie favorable Lösung zustande zu bringen.

STANDARD: Ist die ÖVP beim CA-Verkauf über den Tisch gezogen worden?

Van der Bellen: Die ÖVP hat es nicht geschafft, entweder über Raiffeisen oder die Erste ein glaubhaftes Angebot zu machen. Mich hat das an meiner sentimentalen Flanke getroffen. Ich wollte 1980, als ich an die Uni Wien gekommen bin, hier in der CA-Zentrale ein Konto eröffnen. Da wollten sie mich nicht haben, sondern in die Filiale für die Plebs vis-à-vis schicken. Da habe ich gesagt: "Entweder hier in der Zentrale ein Konto oder auf Wiederschauen." Das Konto habe ich bekommen und habe es bis heute.

STANDARD: Und wie haben Sie die politischen Querelen erlebt? Das bürgerliche Lager hat doch ein Bollwerk verloren.

Van der Bellen: Na ja. Hannes Androsch war dort ja auch Generaldirektor. Spätestens da war ein Loch in das Bollwerk geschossen.

Weber: Es herrschte hier im Haus eine deprimierte Stimmung. In der Kantine saßen die Leute mit steinernen Mienen. Sie haben das als Niederlage empfunden. Das größte Problem war sicherlich, die verschiedenen Unternehmenskulturen zusammenzubringen. Die Creditanstalt war die Bank für die Industrie und für die feinen Herren. Heinrich Treichl hat das sehr gepflegt, erst spät hat man sich dem Massengeschäft zugewandt. Das war lange ein rotes Tuch für die CA.

STANDARD: Nicht übernommen wurde, sondern gänzlich verschwunden ist in den 90er-Jahren der Konsum. Auch hier gab es einen engen politischen Konnex zwischen Unternehmen und Politik.

Weber: Ich komme aus Knittelfeld, wo es am Bahnhof ein riesengroßes Konsum-Gebäude gab. Meine Großeltern - mein Großvater war Eisenbahner - hätten nie woanders als im Konsum eingekauft, außer bei einem kleinen Kaufmann, der in der NS-Zeit Widerstandskämpfer versorgt hat. Die Präsenz des Konsum im täglichen Leben der kleinen Leute war enorm. Das war in der Großstadt sicher anders. Natürlich war die Konsum-Pleite eine fürchterliche Niederlage für die Sozialdemokratie. In Knittelfeld hat früher die überwiegende Mehrheit SPÖ gewählt. Für die ÖVP und die Kommunisten, die relativ stark waren, blieb der Rest. In den 80er-Jahren, im Zuge der Verstaatlichten-Krise, ist dann die FPÖ hochgekommen. Menschen, die Zukunftsängste haben, handeln anders als Leute mit sicherer Lebensperspektive. Das darf man nicht unterschätzen. Auch Antisemitismus habe ich früher nie erlebt. Plötzlich waren "die Juden an der Ostküste" in aller Munde.

Van der Bellen: Für das Selbstbewusstsein von SP-Mitgliedern war der Konsum wichtiger als für die ökonomische Dimension. Jetzt geht man halt zum Spar oder zum Billa. Mir ist es relativ wurscht, wo ich einkaufe, solange die Ware nicht verdorben ist.

Niss: ... und der Preis nicht zu hoch ist.

Van der Bellen: Bei den meisten Sachen weiß ich gar nicht, ob der Preis zu hoch oder zu niedrig ist.

STANDARD: Immer wieder für Diskussionsstoff haben Sparpakete und Steuerreformen gesorgt. Was haben Sie da in bester Erinnerung?

Van der Bellen: In bester Erinnerung ist die größte Einkommensteuerreform unter Lacina 1989 mit der Senkung des Spitzensteuersatzes auf 50 Prozent, auch wenn ich danach wegen der Streichung von verschiedenen Ausnahmen mehr Steuern bezahlt habe. Dann kamen 1993 die Abschaffung der Vermögenssteuern - aus meiner Sicht ein Wermutstropfen - und die Einführung der Kapitalertragsteuer.

STANDARD: Das werden Sie wahrscheinlich nicht als Wermutstropfen sehen?

Niss: Es ist kein Geheimnis, dass ich gegen Vermögenssteuern bin. Die sind eine indirekte Enteignung und schlecht für den Standort. Wenn unter dem Sozialdemokraten Lacina die Vermögenssteuer abgeschafft wurde, hat das ja einen guten Grund. Durch die Einführung der KESt gab es dann ja auch mehr Einnahmen als zuvor durch die Vermögenssteuer.

Van der Bellen: Damals haben dank des Bankgeheimnisses 99 Prozent die Einkommensteuer auf Zinsen hinterzogen. Somit war es kein Wunder, dass die KESt mehr bringt. Es gab pragmatische Gründe, das so zu machen.

STANDARD: 2000 war es dann vorbei mit Rot-Schwarz. Auch wirtschaftspolitisch eine Kehrtwende?

Weber: Natürlich war das ein Wendepunkt. In der Zeit der großen Koalitionen mussten zwei Klientelen bedient werden. Große Reformen wurden nie angegangen, weil immer eine Seite die andere blockiert hat. Davon haben Parteien wie die FPÖ profitiert.

Niss: Unter Schüssel/Grasser wurden schon einige Strukturreformen angegangen, beispielsweise bei den Pensionen, auch wenn dann wieder einiges verwaschen wurde. Ich meine da vor allem diesen narrischen Donnerstag (Nationalratsbeschlüsse vor den Wahlen 2008, Anmerkung). Aber für die Wettbewerbsfähigkeit Österreichs wurden einige Initiativen gesetzt.

Van der Bellen: Grasser war mit dem Nulldefizit medial erfolgreich. Doch die Steuererhöhungen haben die Konjunktur belastet, das war kontraproduk- tiv. Die Abgabenquote ist auf einen historischen Höchststand gestiegen.

STANDARD: Wenn Sie sich wirtschaftspolitisch etwas für die nächsten 25 Jahre wünschen könnten, was wäre da ganz oben auf der Prioritätenliste?

Niss: Dass der Standort durch wettbewerbsfähige Unternehmen gesichert wird. Dazu müsste die Abgabenquote gesenkt werden, damit von den Lohnkosten mehr beim Arbeitnehmer landet. Zweitens muss das Bildungssystem geändert werden. Österreich hat Holz und Hirn, also nicht allzu große Ressourcen, umso wichtiger sind Fortschritte in der Bildung und der Forschung.

Weber: Ich halte einen Ausgleich zwischen jüngerer und älterer Generation für zentral. Dieses Problem wird in Zukunft nicht kleiner. Offensichtlich hat niemand eine Idee, was man hier wirklich tun kann.

Van der Bellen: Ich würde mir wünschen, dass man in der Wirtschaftspolitik langfristig und systemisch denkt. Bildung, Forschung oder Innovation über Nacht anzugehen ist vollkommen sinnlos. (Andreas Schnauder, DER STANDARD, 19./20.10.2013)