Das STANDARD-Quartett mit Moderator Christian Ankowitsch (Mi.): Renate Graber, Gerfried Sperl, Harald Fidler, Olivera Stajić (v. li.).  

Foto: Corn, http://www.corn.at

Schwerpunktausgabe
25 Jahre STANDARD

1. Akt: Goldene Zeiten

Ankowitsch: Wie ging es mit Ihnen und dem STANDARD los, Herr Sperl?

Sperl: 1986 schon. Das Telefon hat zu Hause in Graz geklingelt, und eine Stimme hat gesagt: "Guten Tag. Mein Name ist Oscar Bronner." Ich war zuerst skeptisch, aber Bronner hat mich dann überzeugt, weil er Ruf und Kapital für dieses Projekt eingesetzt hat.

Ankowitsch: Hat Österreich auf den STANDARD gewartet?

Fidler: Ja, an den Unis gab es einen Run auf ihn. Es war chic, das lachsfarbene Blatt bei sich zu haben.

Ankowitsch: Als Ausweis für die eigene liberale Haltung?

Sperl: Als Ausdruck einer Sehnsucht nach Neuem.

Graber: Es gab zweifellos großen Bedarf, eine kritische Tageszeitung war neu, es gab nur Profil.

Stajić: Ende der 1990er war der STANDARD an der Uni immer noch chic und alternativlos, zumindest unter vielen Geschichtsstudenten.

Ankowitsch: Fehlt Österreich nicht das liberale Bürgertum, das den Standard als liberale Zeitung stärker machen könnte?

Stajić: Es bildet sich mithilfe des STANDARD.

Graber: Viele Konservative lesen uns ebenfalls, was für unsere Qualität spricht.

Sperl: Wir haben als erste Zeitung Österreichs eine diskursive Kultur gepflegt, den "Kommentar der anderen". Wir haben also ein Quäntchen zu einer neuen politischen Kultur beigetragen.

Ankowitsch: Waren die ersten Jahre des STANDARD die "goldenen Jahre": Print als avanciertestes und wirtschaftlich erfolgreiches Medium für kritischen Journalismus?

Sperl: Bronners Geschäftsmodell, mit Qualitätsjournalismus Anzeigen zu akquirieren, hat funktioniert und tut es bis heute. Mit der Fusion von Print und Online wird jetzt versucht, dieses Prinzip zu adaptieren. Von "goldenen Zeiten" kann aber keine Rede sein. Dazu haben wir viel zu viel kämpfen müssen.

Ankowitsch: War nicht ein Kennzeichen dieser Zeit, dass sich Printjournalisten als Großmeister des Besserwissens fühlten?

Fidler: DER STANDARD hat sich früh mit der eigenen Branche beschäftigt, wirtschaftlich, politisch, sprachlich. Mangelnde Selbstkritik kann man uns nicht vorwerfen.

Graber: Ich halte es für ein Klischee, dass Journalisten sich überlegen, wen sie sich vorknöpfen könnten. Bei uns ist das nicht so.

Stajić: Ein bisschen stimmt es aber schon, oder?

Graber: Das ist ein grundsätzliches Problem. Journalisten sind stets versucht, sich als Person für mächtig zu halten. Dabei werden sie nur als Träger einer Visitenkarte wahrgenommen.

Ankowitsch: Sie glauben nicht, dass der Mangel an Selbstkritik in den 80ern ein übersteigertes Journalisten-Ego hat entstehen lassen? Das würde die aktuelle Depri-Stimmung erklären.

Fidler: Ein wesentlicher Unterschied besteht darin, dass sich die Leser heute viel einfacher äußern können, etwa in Postings. Sie machen mich dankenswerterweise auf Fehler aufmerksam.

Sperl: Wenn's nur das wäre ...

Fidler: Man kann sich Feedback nicht aussuchen.

Sperl: Ich bin für die Postings. Aber unter einer Bedingung: Man soll sagen, wer man ist. Wir leben in einer Demokratie, niemand muss sich vermummen.

Graber: Früher sind wir von den Lesern viel weniger hinterfragt worden. Da hat man einen Leserbrief gekriegt und drei Wochen später beantwortet.

Stajić: Man kann den Journalisten von damals mangelnde Selbstreflexion nicht zum Vorwurf machen. Es gab keinen Bedarf dafür.

Ankowitsch: Ah, Sie gehen in dieser Frage bedarfsgetrieben vor?

Stajić: Ja, wozu hätte man sich selber infrage stellen sollen? Die Journalisten waren die vierte Macht, den Leser hat man nicht besonders ernst genommen.

2. Akt: Konfusion und Selbstzweifel

Ankowitsch: In welchem Moment haben Sie erkannt, dass sich im Journalismus etwas Neues tut?

Graber: Als wir beim Profil ein Intranet gekriegt und einander geschrieben haben, statt anzurufen.

Sperl: Am Tag, als die ÖVP-FPÖ-Koalition etabliert wurde, am 4. Februar 2000. Damals wurde mir klar, dass sich Online-Journalismus zur journalistischen Macht entfaltet hat. Unsere Online-Redaktion hat eine schwarze Startseite veröffentlicht mit dem Satz "Es wird Nacht in Österreich". Ich habe sofort angerufen, weil ein liberales Medium sich so nicht positionieren darf. Bis heute gelte ich daher als Gegner, obwohl ich Online nie behindert habe. Die haben ja ab 1995 Print-Texte publiziert.

Stajić: Sie haben erst damals gemerkt, dass es im Internet Journalismus gibt?

Sperl: Als einen eigenständigen Journalismus! An diesem 4. Februar wurde mir klar, dass wir auf allen Kanälen auf die Marke achten müssen. Die Angst habe ich jetzt nicht mehr, weil sich online viel Qualität angesammelt hat.

Stajić: Einer meiner ersten Jobs war bei einer wissenschaftlichen Online-Plattform für Südosteuropa-Forschung. Mein Einstieg in die Medien geschah also bereits übers Internet.

Fidler: Erich Möchel kam 1995 und wollte statt einer TV-Kritik eine Internetkolumne. Ich fragte mich: "Was will der von mir?" - und Möchel schrieb seine "Hyperlinks". Bei mir brauchte es erst deutsche Online-Mediendienste wie kress, um mich anzustecken und auf den ersten solchen Dienst für Österreich zu drängen.

Ankowitsch: Täuscht mich der Eindruck oder gelten Printjournalisten aktuell als die größten Verlierer?

Graber: Der Eindruck täuscht.

Ankowitsch: Es gibt keine Krise des Printjournalismus?

Graber: Das haben Sie nicht gefragt. Es gibt überall Verlierer. Printjournalisten hatten immer Probleme, jetzt haben sie Konkurrenz.

Stajić: Bei Netzjournalisten gelten die Printkollegen ganz klar als Loser. Als unbeweglich und überängstlich.

Fidler: Werbegelder verlagern sich, die den Großteil der Zeitungserlöse ausgemacht haben. Ich höre seit 20 Jahren in Debatten, Print sei tot, und viele leben immer noch ganz gut.

Sperl: Frank Schirrmacher vertritt die These, dass die Tageszeitung ein biologisch getriebenes Medium ist, sie also jeden Tag stirbt und sich am nächsten Tag wieder neu erfindet.

Stajić: Viel Neuerfindung sehe ich im Print momentan nicht.

Graber: Die Neuerfindung sind die Inhalte ...

Stajić: Aber diese Inhalte gibt es auch im Netz.

Sperl: Online ist ein Perpetuum mobile. Das ist ok, ich nutze es auch so. Ich bin nur entschieden dagegen, Print für tot zu erklären. Ich fordere die Journalisten und Verleger auf, ihr Medium konkurrenzfähig zu machen; in Forschung zu investieren, wie man aus Zeitungspapier einen Bildschirm machen kann.

Stajić: Ich erkläre nichts für tot. Ich finde es nur gefährlich, zu sagen, man könne in Print Sachen machen, die online nicht funktionieren, vor allem Anzeigen. Das stimmt einfach nicht.

Ankowitsch: Wie ist eigentlich der Mythos entstanden, man könne Print- und Online-Redaktionen fusionieren? Für mich sind das zwei ganz verschiedene Sphären, die je eigene Spezialisten brauchen.

Fidler: Dem widerspreche ich entschieden. Beides ist bisher vor allem textbasierter, aktueller Journalismus. Mir ist völlig powidl, auf welchem Kanal ich publiziere.

Stajić: Solange das Publizieren im Internet so textlastig ist wie jetzt, sehe ich kein Problem darin, Print- und Online-Redaktionen zu fusionieren. Wenn aber immer mehr bewegte Bilder und organisch erzählte Geschichten wie etwa im Guardian oder der New York Times verlangt werden, müssen wir alle umlernen. Den klassischen Artikel auf derStandard.at wird es nicht mehr geben.

Ankowitsch: Das klingt nach Trennung bzw. Verschwinden des Texts.

Stajić: Ich verstehe nicht, worin das Alleinstellungsmerkmal von Printjournalisten besteht: Dass er seine Geschichte gedruckt liest? Ist das alles? Dass er um 17 Uhr abgeben muss und im Platz beschränkt ist? Warum hängt man an solchen Beschränkungen?

Ankowitsch: Weil das, was Sie als Beschränkung bezeichnen, eine Qualität erzeugt? Geschlossene Artikel, die Argumente entwickeln, sich Zeit nehmen für ein Urteil, größere Zusammenhänge schaffen?

Stajić: Online-Geschichten können das auch. Die sind keine endlosen Schläuche.

Graber: Aber oft sehr kurz und schnell rausgeschossen.

Ankowitsch: Online fördert kurze, kontextlose Geschichten.

Fidler: Das ist völliger Unsinn. Als ob es niemanden gäbe, der im Web gute, ganze Geschichten schreibt.

Ankowitsch: Logisch, aber das Medium und die kurzen Aufmerksamkeitsspannen fordern kurze, bunte Storys. Sie sind kontextlos, weil sie immer Ausschnitte präsentieren, wenig Geschlossenes.

Graber: Man kann online beides: News rausschießen und dann hintergründig erzählen wie in Print. Die einen mögen das, die anderen das. Es gilt beide Gruppen zu bedienen, das ist unser Job.

Sperl: In einer schnellen Welt brauchen wir Online, klar, es ist ein Beschleunigungsmedium. Man kann dort zwar lange Hintergrundtexte publizieren, die Leser stehen aber unter großen Pressionen. Print ist ein Entschleunigungsmedium, Texte entwickeln eine literarische Magie und eine besondere Intimität. Es ist unsere Verantwortung, das sprachlich zu entwickeln. Wenn wir hingegen nur mehr über Bilder kommunizieren, fehlt uns etwas.

Stajić: Das habe ich nicht gefordert. Die angesprochene literarische Magie gibt es eher online, finde ich. Im Print kämpfen Sie doch dauernd um Platz. Wo ist da Platz für Magie? Da ist ja reiner Kampf.

Sperl: Der "Kampf" um Platz ist eine klassische Methode der Journalisten, um Platz zu kriegen - und ihn zu bekommen.

Stajić: Es stimmt nicht, dass online alles nur schnell, knapp und oberflächlich sein muss. Es ist eine Frage der personellen Ressourcen, auch dort schöne, lange, literarische Dossiers zu machen. Wenn man mir eine Oberfläche bietet, die genauso augenfreundlich ist wie das lachsfarbene Papier, bleibe ich auch am Bildschirm hängen.

3. Akt: Strahlende Zukunft?

Ankowitsch: Was uns zur Frage bringt: Was kann Print von Online lernen?

Graber: Wir denken nicht mehr in Print und Online.

(Allgemeines Gelächter)

Sperl: Die Online-Journalisten sind oft näher am Leben als jene von der Tageszeitung. Qualitätsjournalisten müssen lernen, weniger abgehoben zu sein.

Stajić: Das ist doch sehr versöhnlich. Das gefällt mir.

Graber: Wir führen die beiden Sphären eben zusammen. Lernen können wir schnelleres Reagieren und neue erzählerische Formen.

Fidler: Ich glaube nicht, dass die Printjournalisten von den Onlinern Beschleunigung lernen müssen. Sie sollten sich - in Print - auf Entschleunigung konzentrieren, um Themen breiter und vorausschauend zu behandeln. Und beide Seiten müssen davon profitieren lernen, dass wir von den Lesern unmittelbar und rasch viel, auch viel Unangenehmes über unsere Arbeit erfahren.

Stajić: Die Tageszeitung sollte darüber nachdenken, ob es sich noch lohnt, täglich Papier zu bedrucken? Ich habe meine Zweifel.

Ankowitsch: Mittelfristig ist es also mit Print gelaufen?

Stajić: Was heißt mittelfristig?

Ankowitsch: In den nächsten Jahren.

Stajić: Nein, das nicht, aber in fünf, zehn Jahren.

Graber: Warum sollte es sich nicht lohnen, in Print zu investieren? Wir können ja nicht die nächsten zehn Jahre sterben. Zehn Jahre lang zu sterben tut weh.

Stajić: Dann sollten wir investieren. Aber muss es eine Tageszeitung sein? Ist nicht der Wochenrhythmus sinnvoller? Größere Geschichten. Wieso liefern wir den Leuten gedruckte Texte, die zwölf Stunden alt sind?

Sperl: Weil der Verlag ohne Printzeitung sofort zusammenbrechen würde.

Stajić: Das wissen auch die wahnsinnigen Onliner. Wir sehen, wo das Geld und die Werbung herkommen.

Sperl: Die Haltung, dass Print mittelfristig zugrunde geht, hat zur Folge, dass sich das Gefühl durchsetzt, man sollte besser nichts mehr investieren. Falsch! Man muss in beide Medien investieren. Ohne Online hat unser Verlag keine Zukunft, aber ohne die Glaubwürdigkeit der gedruckten Inhalte könnten wir nicht so viele Inserate akquirieren.

Stajić: Irgendwann muss man diese Inhalte nicht mehr drucken, Online genügt vollkommen.

Sperl: Für diese These gibt es keine Beweise.

Ankowitsch: Nun zur Umkehrfrage: Was kann Online von Print lernen?

Stajić: Der Streit zwischen Online und Print wirkt auf mich wie eine typische Generationendebatte: Die Eltern sind enttäuscht, dass die Jungen alles zunichtemachen, was sie aufgebaut haben. Das ist aber falsch, denn wir Onliner haben viel von Print gelernt: Wir haben etwa die Marke mitgenommen; dafür sind wir dankbar. Wir können lernen, mehr Selbstbewusstsein zu entwickeln, denn wir haben in den 18 Jahren dank der Waghalsigkeit von Gerlinde Hinterleitner viel geleistet.

Ankowitsch: Was kann Online von Print lernen, Herr Sperl?

Sperl: Die Bemühungen von Print, eine diskursive journalistische Kultur zu entwickeln.

Ankowitsch: Wir schreiben das Jahr 2088, der Verlag ist 100 Jahre alt. Was wünschen Sie ihm?

Fidler: Dass beide Welten, wenn sinnvoll, existieren und dass sich im Netz ebenso qualitätsvoller und unterhaltender Journalismus wunderbar weiterentwickelt, weil er finanzierbar ist.

Stajić: Wir kennen unser Ziel, sind finanziell abgesichert, nutzen das Internet und seine technischen Möglichkeiten, und jeder Österreicher steuert morgens allein derStandard.at an und sonst nichts.

Graber: Ich wünsche mir einen STANDARD, der Bücher macht, Fernsehfilme, ein gutes Onlineprodukt, eine gute Zeitung, und dass alle das tun, was sie am besten können - und das Ganze lustvoll in einem Haus.

Sperl: Ich wünsche unseren Nachfolgerinnen und Nachfolgern, dass sie das schreiben und publizieren können, was ihnen vorschwebt. Und dass sie nicht das schreiben müssen, was ihnen, ohne dass sie es merken, ein Weltgeheimdienst vorschreibt.

Online ist ein perpetuum mobile. Das ist ok, ich nutze es auch so. Aber man muss in Print und Online investieren. (Christian Ankowitsch, DER STANDARD, 19.10.2013)