Gigi Chao: Eine Explosion an Information bringt Wandel nach China.

Foto: Prantner

Gigi Chao empfängt persönlich. Sie tritt ins Vorzimmer, ein fester Händedruck, eine freundliche Begrüßung. Dann bittet die junge Frau in ihr Eckbüro im 31. Stockwerk des Cheuk-Nang-Plaza-Hochhauses an der Hennessy Road in Hongkong. Es ist voller Geschäftsunterlagen und voller gerollter Pläne für Immobilienprojekte. Aber darum geht es heute nicht. Frau Chao streicht ihr Haar hinters Ohr, verknotet ihre Finger, setzt sich kerzengerade hin und begibt sich in ihre andere Rolle: Jetzt fühlt sie sich in der Pflicht, Anwältin für "LGBT people" zu sein. Jetzt vertritt sie die Interessen von lesbischen, schwulen, bisexuellen und Transgender-Menschen in Hongkong.

Gigi Chao hat sich das nicht unbedingt ausgesucht. Das ist hinter jedem Satz zu hören, den sie mit Bedacht vorträgt. Die 33-Jährige ist dazu gekommen, als es ihrem Vater Cecil vor ziemlich genau einem Jahr einfiel, 500 Millionen Hongkong-Dollar (rund 50 Millionen Euro) für jenen potenziellen Ehemann auszuloben, der seine lesbische Tochter gewissermaßen "umdrehen" würde.

Das doch einigermaßen resch vorgetragene Ansinnen von Vater Chao, der von sich sagt, mit 10.000 Frauen im Bett gewesen zu sein und keine einzige davon geehelicht zu haben, sorgte für weltweite Schlagzeilen. Und seine Tochter fand sich plötzlich mit einer globalen Prominenz ausgestattet wieder, die sie selbst niemals gesucht hatte, die sie aber auch nicht scheuen wollte: "Das war eine ziemlich verrückte Zeit damals."

Heiratsurkunde inklusive

Tausende Männer meldeten sich, reichten die besten Referenzen ein - manche legten sogar ihre Heiratsurkunde bei. Gigi Chao aber blieb, was sie war, und heiratete ihre langjährige Partnerin. Daneben wurde sie, wie sie im Gespräch mit dem Standard sagt, eine "Menschenrechtsanwältin" : "Hongkong hat eine sehr spezielle Situation, wenn es um die Menschenrechte geht, insbesondere jene von Homosexuellen. Da herrscht eine sehr traditionelle Sichtweise vor. Und ich persönlich werde als eine Art Ikone für den Wandel angesehen."

Für die chinesische Gesellschaft - in Hongkong und in der Volksrepublik auf dem Festland - ist dieser Wandel einigermaßen neu. Noch immer hat das Kollektiv Vorrang, individuelle Bedürfnisse Einzelner dagegen müssen weitgehend untergeordnet werden. Ein sexuelles Coming-out - gewollt oder ungewollt - hat noch immer etwas Unerhörtes. Unterscheiden sich Chinesen, zumal jene in Hongkong, im äußeren Habitus und der Lebensart kaum noch von Westlern, tragen sie doch 5000 Jahre Tradition in sich, im Laufe derer ihre Gesellschaft schon kultiviert war, während jene im Westen gerade eben die Baumwipfel verlassen hatte.

Schisma in der Gesellschaft

Dennoch ist Gigi Chao einigermaßen optimistisch: "Die Jubelfeier für die Individualität geht Hand in Hand mit Kreativität. Die chinesische Gesellschaft verändert sich rasch, es gibt ein Schisma zwischen den Jungen und den Alten. Die sitzen noch immer auf den Sesseln der Macht. Die Jungen dagegen sind mit Globalisierung, mit Social Media, mit einer weltumspannenden Informations- und Unterhaltungskultur aufgewachsen. Das ist der Grund für eine gewisse, zunehmende Unruhe in der chinesischen Gesellschaft."

Aber das, sagt die Architektin, sei eine gute Sache. Denn diese "Explosion von Information" sei unausweichlich und bringe wahren Wandel, auch wenn dieser für die ältere Generation oft nur schwer zu akzeptieren und zu bewältigen sei: "Der Triumph des Individualismus ist ein unausweichlicher Trend - auch in Hongkong und in China."

York Chow, Chef der Gleichbehandlungskommission in Hongkong, sieht die Dinge später ähnlich. Er weist aber auch auf einen Unterschied hin: "Hongkong hat aufgrund einer viel religiöseren Gesellschaft größere Schwierigkeiten, mit anderen Lebensentwürfen umzugehen als das Festland. Aus dieser Perspektive ist die Volksrepublik freier."

Gigi Chao formuliert es so: "Das Festland ist den USA sehr ähnlich: Viele wachsen am Land auf, finden ihre Karriere und ihr Leben in den Städten. Sie treten aus dem Schatten ihrer Eltern. Das macht die Menschen frei, sie können sich als Individuen etablieren."

Das erste Mal im Gespräch lehnt sich Frau Chao zurück in ihren Bürosessel und blickt in Richtung Festland, nach Kowloon. Dort ist Hongkong durch einen Zaun von Shenzhen getrennt - ein Land, zwei Systeme. Freiheit und Individualität aber sind dort ebenso geflissentlich eingehegt. Wann es unter den neuen gesellschaftlichen Bedingungen so etwas wie echte Demokratie in China geben könnte? "Das wird noch etwas dauern, fürchte ich", sagt Gigi Chao. (Christoph Prantner aus Hongkong, DER STANDARD, 19.10.2013)