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"In den ehemaligen Sudetengebieten ist es nach wie vor schwierig, eine Gemeinschaft mit kontinuiertlicher Entwicklung und einem sozialen Zusammenhalt aufzubauen", sagt Ondřej Matějka.

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STANDARD: In Ihrem Ausstellungs- und Buchprojekt "Das verschwundene Sudetenland" präsentieren Sie alte Fotos aus den Sudetengebieten und gleich daneben jeweils aktuelle Aufnahmen aus derselben Perspektive. Inwiefern unterscheidet sich heute das Sudetenland vom Rest Tschechiens?

Matějka: Der Unterschied zwischen dem Sudetenland und dem Binnenland ist immer noch zu sehen - sowohl in der Landschaft als auch in der Gesellschaft. Große Teile der ehemaligen Sudetengebiete sind sehr strukturschwach. Die Bewohner haben oft keinen wirklichen Bezug zu der Region, in der sie leben. Dazu kommen die ökonomischen Probleme mit ihren sozialen Folgewirkungen. Häufig handelt es sich um sterbende Industrieregionen mit hoher Arbeitslosigkeit, die Menschen haben wenig Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Es gibt auch viele Roma-Ghettos dort, und die Beziehung der Mehrheitsbevölkerung zu den Roma ist bekanntlich sehr angespannt.

STANDARD: Gibt es gar keine positiven Entwicklungen?

Matějka: Doch, es hat sich viel getan, seit wir vor mehr als zehn Jahren mit unserem Projekt begonnen haben. Inzwischen kann man auch in den ehemaligen Sudetengebieten viele Beispiele für bürgerliches und zivilgesellschaftliches Engagement finden.

STANDARD: Inwiefern hängen die Probleme in der Region mit der Vertreibung der deutschen Zivilbevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen?

Matějka: In den ehemaligen Sudetengebieten ist es nach wie vor schwierig, eine Gemeinschaft mit kontinuierlicher Entwicklung und einem sozialen Zusammenhalt aufzubauen. Diese Regionen sind oft sehr dünn besiedelt. Es leben hier viel weniger Menschen als vor dem Krieg, und die, die hier leben, haben häufig noch nicht Fuß gefasst. Wenn man sich ansieht, ob in den einzelnen Gemeinden die freiwillige Feuerwehr funktioniert, ob die Kirche lebt, ob die Menschen überhaupt Feste feiern, zum Beispiel den Fasching, dann merkt man: All das gibt es außerhalb des Sudetenlandes viel öfter - also überall dort, wo nach dem Krieg nicht innerhalb von zwei Jahren fast die ganze Bevölkerung ausgetauscht wurde.

STANDARD: Kann man also sagen, dass auch die Tschechen durch die Vertreibung der Deutschen viel verloren haben?

Matějka: Absolut. Es ist auch nicht so einfach, das wieder gutzumachen. Viele unsichtbare Güter wie gesellschaftliche Normen und Traditionen sind verlorengegangen - und natürlich auch viel Know-how. Materielle Güter wie etwa Fabriken sind geblieben, aber sie allein bringen noch keinen Reichtum. Das kann man gut am Vergleich mit Bayern ablesen, wo sich viele Sudetendeutsche niedergelassen haben.

STANDARD: Am Freitag und Samstag wird in Tschechien gewählt. Welche Erfahrungen gibt es bisher mit dem Wahlverhalten in den ehemaligen Sudetengebieten?

Matějka: Es sind Regionen, in denen oft Protestparteien gewählt werden. Die jüngste Volkszählung hat gezeigt, dass die Gebiete rund um Karlsbad oder Aussig außer der hohen Arbeitslosigkeit auch eine geringe Anzahl von Hochschulabsolventen und eine besonders hohe Scheidungsrate haben. Bis zu einem gewissen Grad gibt es in solchen Regionen eben auch ein typisches Wahlverhalten. Aber das ist relativ. Gerade bei der letzten Präsidentschaftswahl, wo der Wahlkampf zwischen Milos Zeman und Karl Schwarzenberg ja stark polarisiert hat, war das nicht so. Es gab in den Grenzgebieten auch sehr viele Stimmen für Schwarzenberg, obwohl sich Zeman den Sudetendeutschen gegenüber sehr kritisch geäußert und diese Karte gegen Schwarzenberg ausgespielt hat. Die Trennlinien in dieser Frage sind also durchlässig. Und sie verlaufen nicht nur zwischen den Regionen, sondern immer mehr auch quer durch die ganze Gesellschaft. (DER STANDARD, 21.10.2013)