Martin Wehrle, Karrierecoach und Buchautor, diagnostiziert "Arbeitswahn".

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Bin ich hier der Depp? - Wie Sie dem Arbeitswahn nicht länger zur Verfügung stehen

Martin Wehrle

320 Seiten

Mosaik-Verlag

Oktober 2013

Preis: 14,99 Euro

Foto: Verlag

"Abteilungen gleichen Lazaretten, hausgemachtes Mobbing lichtet die Reihen, und das Burnout, die neue Volkskrankheit, spaziert von Büro zu Büro." Martin Wehrle, deutscher Karrierecoach und Chef der Karriereberater-Akademie in Hamburg, beschreibt in seinem neuen Buch "Bin ich hier der Depp?" den "täglichen Bürowahnsinn", wie er die Zustände in vielen Unternehmen nennt. Im Interview mit derStandard.at erläutert er, was er darunter versteht und welche Auswege es aus dem Hamsterrad gäbe.

derStandard.at: Sie kommen in Ihrem Buch zu einem vernichtenden Befund der heutigen Arbeitswelt. Ist es wirklich so schlimm, oder übertreiben Sie einfach maßlos?

Wehrle: Ich schreibe genau das, was Tatsache ist. Sie brauchen nur in die Statistik zu schauen. Die Zahl der Burnout-Fälle hat sich in den letzten sechs Jahren verelffacht. Jeder vierte Beschäftigte legt nicht einmal mehr Pausen beim Arbeiten ein. Jeder dritte Chef erwartet von seinen Mitarbeitern, dass sie auch dann zur Arbeit kommen, wenn sie krank sind. Das sind vernichtende Zahlen, und als Karriereberater höre ich die Geschichten, die dahinterstehen.

derStandard.at: Hat sich die Situation in den letzten Jahren so verschlimmert?

Wehrle: Ja, ungeheuerlich. Aus einem einfachen Grund: Firmen haben früher nachhaltig gewirtschaftet und waren auf Generationen angelegt. Sie haben sich bemüht, dass sich ihre Mitarbeiter wohlfühlen. Heute regiert der Finanzkapitalismus, also der Imperativ, in möglichst kurzer Zeit möglichst gute Zahlen vorzulegen. Deshalb neigen Manager dazu, immer mehr Mitarbeiter zu entlassen, immer mehr Arbeit auf immer weniger Schultern zu laden. Das ist das Hauptproblem und bringt viele Mitarbeiter ins Burnout.

derStandard.at: Irgendwann muss dann der Punkt kommen, an dem es komplett kracht?

Wehrle: Worte und Taten gehen auseinander. Ich kenne Unternehmen mit Führungskräften, die ihren Mitarbeitern sagen, dass sie es nicht mit Überstunden übertreiben oder Urlaub nehmen sollen, aber selbst das Gegenteil vorleben. Sie sind abends bis 21 oder 22 Uhr in der Firma, sie verschicken nachts ihre Mails, sie unterbrechen ihren Urlaub. Das vorgelebte Beispiel wiegt immer schwerer als ihre Worte. Hier geben Führungskräfte ein schlechtes Vorbild ab. Und wenn Sie schauen, wer befördert wird, dann sind das tendenziell immer jene, die es mit der Arbeit übertreiben, und nicht jene, die vernünftig sind.

derStandard.at: Dieses Agieren der Führungskräfte manifestiert sich dann im Handeln der Mitarbeiter?

Wehrle: Absolut. Führungskräfte stehen natürlich auch unter Druck. Früher wurde ein Vorgesetzter besser bezahlt, je mehr Mitarbeiter er in seiner Abteilung hatte. Heute haben wir das Prinzip des Profit-Center. Wenn ein Manager es schafft, den Mitarbeiterstand zu reduzieren, dann bekommt er eine Prämie. Dieses System setzt die falschen Anreize.

derStandard.at: Es krankt nicht am Missmanagement Einzelner, sondern am System per se?

Wehrle: Das würde ich unterschreiben. Es nützt aber nichts, nur gegen Führungskräfte zu wettern, denn die sind oft die ersten in der Burnout-Klinik. Dann merken sie plötzlich, dass sie der Firma, in der sie so hoch gehandelt wurden, nichts mehr wert sind. Sie landen auf dem Abstellgleis. Erst dieses Schockerlebnis führt zu reflektiertem Denken.

derStandard.at: Sie schreiben von einem Tapferkeitsorden, den sich viele für einen Herzinfarkt erwarten. Wird Ausreizen bis zum Zusammenbruch zum Credo?

Wehrle: Wenn ein Chef ein Burnout bekommt, ist das für viele eine Art Ehrentitel. Die sagen dann: "Ich habe mich ja wirklich reingehängt, ich habe alles getan, ich habe schwer gekämpft, wurde in dieser Schlacht kurz zu Boden geworfen, werde aber bald wieder aufstehen und weitermachen." Ähnlich wird es bei einem Herzinfarkt gesehen. Je weiter oben sie sind, desto eher können sie es sich erlauben. Bekommt aber ein Mitarbeiter auf einer mittleren Führungsebene oder gar im einfachen Angestelltenverhältnis ein Burnout, steht immer der Verdacht im Raum, dass er der Sache nicht gewachsen war. Die Arroganz der Firmen ist, dass sie Menschen zu Burnout-Persönlichkeiten degradieren – ein Wort, das man sich auf der Zunge zergehen lassen muss, statt einfach zu fragen, warum sie zusammengebrochen sind.

derStandard.at: Welche Signale sollen von Führungskräften kommen? Zum Beispiel dass spätabends oder nachts keine Mails geschrieben oder weitergeleitet werden?

Wehrle: Absolut. Ein Manager einer deutschen Kommunikationsfirma hat mir einmal erzählt, dass er sich sonntags oder am Abend langweilt und deswegen auch Mails um 22 oder 23 Uhr schreibt. Ohne die Erwartung zu haben, dass seine Mitarbeiter darauf reagieren. Das ist Blödsinn, denn wenn er um diese Zeit schreibt, glauben seine Beschäftigten, dass er eine Antwort möchte. Am besten ist, wenn Führungskräfte nicht zu viele Überstunden leisten, nicht zu unmöglichen Zeiten mailen, dass sie konsequent ihren Urlaub nehmen. Und auf diese Weise ein gutes Beispiel leben, an dem sich Mitarbeiter orientieren können.

derStandard.at: Und wenn sie schon um diese Zeit arbeiten, sollen sie Mails trotzdem erst am nächsten Tag abschicken?

Wehrle: Ja, aber noch besser fände ich, wenn es nicht zur Regel wird, dass Manager 60 oder gar 80 Stunden pro Woche arbeiten. Das Allerdümmste ist, wenn sich etwa Manager oder Politiker damit rühmen, dass sie mit nur vier Stunden Schlaf pro Nacht auskommen. Das ist derart dämlich, den Schlaf noch als Produktionsausfall darzustellen, denn diese Erholungszeiten sind enorm wichtig, um die Arbeit gut und konzentriert bewältigen zu können. Die Rechnung "Je länger ich arbeite, desto produktiver bin ich" ist komplett daneben. Acht bis neun Stunden konzentriertes Arbeiten, mehr schafft auch der engagierteste Kopf nicht.

derStandard.at: Welche Rolle spielt hier mobiles Arbeiten?

Wehrle: Neue Medien sorgen dafür, dass der Damm des Feierabends, der früher zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber war, eingerissen wird. Arbeit verfolgt Menschen bis ins Schlafzimmer oder in den Urlaub. Das ständige Gefühl, erreichbar zu sein, auf Stand-by sein zu müssen, verhindert die Erholung.

derStandard.at: Das Gegenmittel: einfach abschalten?

Wehrle: Wenn man es kommuniziert, klar. Man schafft Gewohnheiten in zwei Richtungen. Sie sind rund um die Uhr erreichbar. Wissen das alle, dann sind Leute irritiert, wenn Sie einmal nicht antworten. Ich als Freiberufler arbeite zum Beispiel ohne Smartphone, das funktioniert wunderbar.

derStandard.at: In Deutschland gibt es ja einige Initiativen, die in diese Richtung gehen. Das deutsche Arbeitsministerium etwa, das eine Dienstvereinbarung zum Mitarbeiterschutz verabschiedet hat, oder private Unternehmen, die keine Mails mehr nach Feierabend weiterleiten. Ist das eine Tendenz?

Wehrle: Ich bin skeptisch, weil die obersten Manager trotzdem noch diesen Präsenzwahn vorleben. Überzeugter wäre ich, wenn bei VW auch die Topmanager sagen würden, dass sie ihr Diensthandy um 19 Uhr ausschalten. Diesen Trend gibt es zwar, weil Firmen merken, dass immer mehr Menschen krank und demotiviert werden, aber durchsetzen wird es sich erst dann, wenn Unternehmen auch danach handeln. Ein Beispiel: Wenn es um eine Beförderung geht, sollte man nicht denjenigen wählen, der immer unsinnig viel und bis in die Nacht arbeitet, sondern den Kollegen nehmen, der zwar um 17.30 Uhr geht, dafür aber gut und konzentriert arbeitet.

derStandard.at: Diese Vorstellung ist da, um Karrierechancen intakt zu halten?

Wehrle: Die Vorstellung und was Menschen auch sehen. Es gibt ja Rollenmodelle, an denen sich Mitarbeiter orientieren. Jene, die rund um die Uhr schuften, werden als Helden der Arbeit gesehen.

derStandard.at: Können solche Initiativen wie jene aus dem Arbeitsministerium eine Vorbildwirkung haben? Sollten andere Ministerien nachziehen?

Wehrle: Das fände ich sehr gut, denn gerade Behörden müssen den Geschwindigkeitswahn der freien Wirtschaft nicht mitmachen. Wenn man Richtlinien für Firmen möchte, muss man das in Ministerien vorleben. Das gilt aber nicht nur für Ministerialbeamte, sondern auch für Minister. Ich würde mich freuen, wenn ein Minister den Mut aufbringt und sagt: "Tut mir leid, diesen Sonntag bin ich nicht in der Talkshow, weil ich einen Familienabend habe." Auf diese Weise könnte man auch Sympathie gewinnen, ohne dass man das Amt vernachlässigt.

derStandard.at: Eine schöne Vorstellung, die aber unrealistisch erscheint.

Wehrle: Das stimmt und bringt uns genau zum Kern des Problems. Leistungsträger werden in der Gesellschaft so definiert, dass sie rund um die Uhr verfügbar sein müssen und ihr Amt über alles geht. Im Privaten führen sie nur noch ein Schattendasein. Hier braucht es ein Umdenken. Das heißt nicht, dass, wenn ein Krisen- oder Katastrophenfall eintritt, der Minister dann eine Postkarte schreibt und nicht erreichbar ist, aber bei verzichtbaren Auftritten kann er sich ruhig einmal zurückhalten.

derStandard.at: In Ihrem Buch schildern Sie anhand von Erzählungen aus Ihrer Beratung, wie der Beruf das Privatleben von Mitarbeitern tangiert. Können Sie ein Beispiel erzählen?

Wehrle: Ein Mitarbeiter fuhr mit Wohnwagen und gesamter Familie ans Nordkap. In der Firma gab er bekannt, dass er auch nicht via Handy erreichbar sei, er hat es sogar zu Hause gelassen. Irgendwann klingelte dann das Handy seiner Frau, dran war sein Chef. Die Nummer hatte er über das Firmentelefon ausfindig gemacht. Der Chef sagte, dass der Mitarbeiter zurückkommen müsse, um eine Präsentation für einen kranken Kollegen zu übernehmen. Daraufhin musste er seinen Urlaub beenden und retourfliegen. Und alles nur, weil der Chef den Termin nicht verschieben wollte, weil ihm die Bedürfnisse des Kunden weit wichtiger waren als jene des Mitarbeiters. Arbeitnehmern werden in unserer Arbeitswelt Rechte genommen, die sie sich über Jahrhunderte erkämpft haben. Das war eine Motivation, dieses Buch zu schreiben.

derStandard.at: Sie fordern einen "Führerschein für Führungskräfte". Wie soll das funktionieren?

Wehrle: Ich stelle mir zwei Elemente vor, erstens: Führung ist eine Humanwissenschaft. Man muss etwas über Menschen und deren Bedürfnisse wissen. Dieses theoretische Wissen sollte sich jeder aneignen müssen, der eine Führungskraft werden will. Zweitens braucht jede Führungskraft auch praktische Eindrücke. Mein Vorschlag ist, dass jeder ein Praktikum in einer Burnout-Klinik macht, um zu sehen, wohin schlechte Führung führt. Dass die vermeintliche Arbeitslust nur Vorbote eines Burnouts ist. Erst nach dieser Ausbildung soll eine Führungsaufgabe übernommen werden dürfen. Jeder, der mit Auto oder Moped durch die Stadt fahren will, braucht eine Ausbildung in Theorie und Praxis, weil er sonst andere gefährdet. Mit welchem Recht lassen wir Menschen auf hunderte oder tausende Angestellte los, ohne nach einer Qualifikation zu fragen?

derStandard.at: Mit einer offiziellen Zertifizierung?

Wehrle: Genau, die sollte von einer staatlichen Stelle, wie eben auch beim Führerschein, kontrolliert werden. Treibt jemand Unfug, muss ihm dieser Führerschein auch wieder entzogen werden können. Das wäre ein Anreiz für Führungskräfte, dass sie nachhaltiger arbeiten und nicht nur auf Zahlen, sondern auf Mitarbeiter schauen.

derStandard.at: Sie wollen einen temporären Führerscheinverlust wie bei alkoholisierten Autofahrern?

Wehrle: Verliert jemand den Führerschein, dann muss er in eine Nachprüfung bei Experten. Stellt sich dabei heraus, dass jemand charakterlich nicht zum Führen geeignet ist, dann darf er auch nie wieder Verantwortung für Mitarbeiter übernehmen. Wir haben immer mehr Suizide von Menschen, die sich bei der Arbeit überfordert fühlen. Die Interessen der vielen Beschäftigten sind immer über die Interessen eines Einzelnen zu stellen.

derStandard.at: Sie nennen viele Unternehmen, die im Umgang mit Mitarbeitern versagen, beim Namen und stellen sie an den Pranger. Gibt es keine Beschwerden oder gar Klagen?

Wehrle: (lacht) Beschwerden gibt es sicher, aber die dringen nicht bis zu mir. Die Firmen wissen ja, dass es stimmt. Wenn sie juristische Schlachten anzetteln, bei denen alle Sachverhalte überprüft werden, dann können sie dabei nur schlecht aussehen. Deswegen halten sie still. Ich werte das als Kompliment für meine Arbeit und meine Recherche.

derStandard.at: So wollen Sie Firmen zu einem Umdenken bewegen?

Wehrle: Ja, daran glaube ich. Wir haben eine Mediengesellschaft, übers Internet verbreiten sich solche Nachrichten sehr schnell. Firmen legen Wert darauf, ein gutes Image zu haben. Hier kann man sie packen, sie müssen schließlich attraktiv für Arbeitnehmer sein, und dazu gehört der verantwortungsvolle Umgang mit Mitarbeitern und ihrer Gesundheit. (Oliver Mark, derStandard.at, 22.10.2013)