Der Streit um die Abschiebung der aus einem Schulbus herausgeholten 15-jährigen Leonarda Dibrani mit ihrer Familie nach Kosovo hat die sozialistische Regierungspartei in Frankreich gespalten und der rechtsradikalen Nationalen Front neuen Auftrieb gegeben. Das Schicksal der Romafamilie hat eine leidenschaftliche Debatte über Menschenrechte, Antirassismus und Solidarität mit Migranten ausgelöst.

Die Streitfragen sind nicht neu: Bereits 2006 haben 30.000 Franzosen in einem Aufruf von der damaligen konservativen Regierung einen sofortigen Stopp der Abschiebung von Minderjährigen gefordert. Auf der Liste der prominenten linken Unterzeichner befanden sich auch der gegenwärtige Ministerpräsident Jean-Marc Ayrault und der Generalsekretär der Sozialistischen Partei Harlem Desir. Das lange Schweigen des Staatspräsidenten François Hollande und schließlich sein öffentliches Kompromissangebot - Leonarda darf zum Schulunterricht zurück, aber ohne ihre Familie -, gekoppelt mit einer vorsichtig formulierten Rüge an der Polizei, löst die Sinnkrise seiner Partei nicht. Das Mädchen hat übrigens nach Pressemeldungen das Angebot abgelehnt.

Der Fall "Leonarda" ist freilich nur ein Teil des großen Unbehagens seit dem Amtsantritt Hollandes im Mai 2012, der tiefen Enttäuschung wegen der Orientierungslosigkeit des Staatschefs, dessen jäher Absturz bei den Umfragen beispiellos ist. Zugleich steigt die Popularität der Führerin des Front National, Marine Le Pen. Ihre Partei erreichte bei einer Kantonwahl in Südfrankreich vor einer Woche 54 Prozent der Stimmen und würde einer Umfrage zufolge bei den Europawahlen 24 Prozent mehr als alle anderen erzielen, wenn jetzt gewählt würde.

Nur ein Minister im sozialistischen Kabinett ist populärer als Le Pen: der als harter Ordnungspolitiker aufgetretene Innenminister Manuel Walls. Er hatte bereits im September erklärt, die fast 20.000 Roma im Land seien zumeist nicht integrierbar und sollten verschwinden. Hollande braucht allerdings den populären Minister im verzweifelten Abwehrkampf gegen den Aufstieg Marine Le Pens, die von fast jedem zweiten Franzosen als die eigentliche Oppositionsführerin betrachtet wird. Durch die Distanzierung vom Antisemitismus ihres Vaters, von dem sie vor zweieinhalb Jahren die Parteiführung übernahm, und durch die Konzentration auf soziale Probleme der verarmten Mittelschichten scheint sie laut Meinungsforscher weniger beunruhigend zu wirken als ihr Vater.

Enttäuscht von den etablierten Parteien links und rechts, befinden sich viele Bürger Europas in einem Stimmungstief. Wegen der fehlenden oder ungenügenden Problemlösungskapazität der repräsentativen Demokratie sympathisieren immer mehr Menschen nicht nur in Frankreich mit Populisten, die oft mit scheinbar maßvollen Programmen Schutz vor der unkontrollierten Einwanderung, Kriminalität, Islamisierung und den anderen angeblichen Auswüchsen der Globalisierung bieten. Von den Niederlanden bis Finnland, von Großbritannien bis Norwegen und Tschechien kann man eine "Entdämonisierung" der Rechtspopulisten beobachten. Ihr Durchbruch ins Innere der Macht in Paris im Frühjahr könnte praktisch die EU von oben nach unten paralysieren. (Paul Lendvai, DER STANDARD, 22.10.2013)