Schorsch Kamerun deklamiert im Wiener Brut-Theater die Lust am ewigen Zweifel. Der Zweifel ist der Tod des Glaubens. Damit wäre für die Goldenen Zitronen schon viel erreicht.

Foto: Christian Fischer

Wien - Man kann sagen, was man will, aber Heinrich Heine hatte eine geile Denke. Die deutsche Protestkultur und das kritische Liedermaching späterer Jahrhunderte brachte er einst so auf den Punkt: "Der Knecht singt gern ein Freiheitslied des Abends in der Schenke. Das stärket die Verdauungskraft und würzet die Getränke." Absolute Bombe!

Jetzt mal so auf die Schnelle: Einige Jahre sowie ein paar Kriege, Wutbürgerinitiativen gegen Bahnhofsvorplatzneugestaltungen, die geplante Stationierung von Pershing-II-Raketen und Atommüllzwischenlager oder auch dem Ende des "Unrechtsstaats" im Osten später ist mittlerweile natürlich selbst dem bockigsten deutschen Protestsänger eines klar: "Das System" ist nicht zu besiegen, wenn man nicht in letzter Konsequenz gegen sich selbst politisch aktiv wird. Immerhin ist es ja reichlich sinnlos, wenn man den Bekehrten nur deshalb predigt, weil diese sich bestätigt fühlen wollen. Nichts da. Der wahre Revolutionär kämpft nicht nur gegen den Feind, sondern auch gegen seine eigenen Leute. Noch jede Generation hat darauf gehofft, die letzte zu sein. Denken wir zum Beispiel alle einmal darüber nach, was wir von den jungen Leuten von heute halten und ob nach uns etwas Besseres nachkommt. Seien wir ehrlich. Eben.

Die Goldenen Zitronen aus Hamburg haben seit drei Jahrzehnten den Zweifel an sich selbst in die Statuten geschrieben. Das führt beim Konzert im Wiener Brut-Theater nicht nur zu einer gespannten Atmosphäre auf der Bühne - inklusive Säbelrasselns und Schwertgeklirres, weil sich in die Live-Darbietung eventuell ein reaktionäres Gitarrenriff eingeschlichen hat oder sich im Synthesizer die hässliche Fratze des Kapitalismus zeigt. Auch textlich setzt man sich gern mit sich selbst als politischem Problembären auseinander. Das wird traditionell als Selbstzerfleischung der Linken abgetan. Blödsinn, wenn schon Neugestaltung der Welt, dann bitte ordentlich - auch wenn es dann ein wenig länger dauert.

Die Musiker spielen ruppige, gern ins Stakkato kippende New Wave mit abgedämpfter Gitarre und wuchtigen Keyboardakkorden, wie man sie vor gut 30 Jahren entwarf, um alte Rock-'n'-Roll-Muster durch Zackigkeit und Wahrhaftigkeitsgetue durch die Zurschaustellung keiner Gefühle zu ersetzen. Die Band tauscht regelmäßig die Instrumente. Stillstand und Routine, der stille Feind. Vorne setzt Sänger Schorsch Kamerun voll auf den Brecht'schen Verfremdungseffekt und die kritische Distanz des Publikums. Die Band steckt in würdelosen Humana-Kleidern, er in einem lächerlichen Kimono aus der legendären Jim Knopf-Inszenierung der Augsburger Puppenkiste. Brecht kam aus Augsburg. Er hatte es gründlich satt, dass an den Menschen mit Fäden wie an Marionetten gezogen wird. Schorsch Kameruns Bedenken und Begehrlichkeiten sind auch nicht ohne:

"Vielleicht will ich gar nicht offen über meine Ängste sprechen, hier so vor euch. Vielleicht will ich gar nicht mein Versagen beklagen. Könnte doch sein. Und vielleicht ist Scheitern in Wahrheit gar keine echte Chance, sondern viel mehr etwas, etwas wirklich Intimes. Wer weiß. Wer weiß. Alle Scheinwerfer spannt herein. Es hieß: Privates muss politisch sein. Jede ist für alle heute Öffentliches. Jeder ist für jeden Familiäres."

Man spürt Protest im Saal

Die Goldenen Zitronen wollen nicht unsere Zuneigung, und sie wollen kein Mitgefühl. Okay, heimlich schon, was uns aber dank der Verfremdungskostüme schwerfällt. Die Zitronen, die auf ihrem neuen Album kokett Who's Bad? fragen, wollen eines: Bei diesem frenetisch vor vollem Haus abgefeierten Aufstand gegen SIE und DIE DA sollen wir auch immer mitdenken, dass wir der Feind im eigenen Bett sind.

Nach neuen Liedern wie Kaufleute 2.0.1 und alten Hits der Band wie Wenn ich ein Turnschuh wär (der schon vor einigen Jahren die Festung Europa und die Flüchtlingstragödien im Mittelmeer ins Visier nahm), ist man einige Zeit lang sehr nachdenklich.

In diesen kurzen Momenten der Reflexion rückt dann der Weltfrieden ein winziges Stück näher. Mehr kann man von Unterhaltungskunst nicht verlangen. Die Goldenen Zitronen konnten im Vergleich zu ihren letzten Wienkonzerten die Besucherzahlen mindestens verdoppeln. Das ist ein gutes Zeichen. Man spürt jede Menge Protest im Saal. (Christian Schachinger, DER STANDARD, 23.10.2013)