Klassenkampf? Bill de Blasio verdreht die Augen, als hätte der Moderator den Abriss des Empire State Building zur Debatte gestellt. "Hören Sie, das ist kein Klassenkampf, das ist Mathematik", sagt er und spricht vom Luxus Manhattans und von mehr als fünfzigtausend Obdachlosen, vom sozialen Riss, der sich durch die Metropole zieht.
Noch vor ein paar Monaten war de Blasio ein unbeschriebenes Blatt, Ombudsmann im Rathaus. Heute ist er drauf und dran, Michael Bloomberg zu beerben, einen Bürgermeister, der sich als sachorientierter Technokrat profilierte. Es sind allein schon die Kontraste der Biografien, die viele von einer symbolischen Wende sprechen lassen. Bloombergs Biotop ist die Wall Street. Mit seiner Geschäftsidee, Finanzinformationen schneller und kompakter anzubieten, hat er Milliarden verdient. Der Weltbürger fliegt Privatjet, besitzt zahlreiche Villen und Apartments. De Blasio war Aktivist und Sozialarbeiter. Nach dem Studium reiste er nach Nicaragua, um im Auftrag einer linken Initiative Medikamente zu überbringen. Seine Flitterwochen verbrachte er auf Kuba, einer für US-Amerikaner verbotenen Insel. Statt in den Wolkenkratzerschluchten Manhattans wohnt er im weniger glamourösen Brooklyn, im Viertel Park Slope.
New York zieht so viele Touristen an wie noch nie, 50 Millionen pro Jahr, es ist schöner geworden und sicherer, aber für Normalverdiener kaum noch bezahlbar. "Wir messen unsere Stadt nicht an der Höhe ihrer Skyscraper, sondern an der Stärke ihrer Nachbarschaften", predigt de Blasio. Sein Thema ist die soziale Schieflage - und das flaue Gefühl, das viele haben.
Debate Watch Party bei Margaret Laurens, einst Vizechefin eines Buchverlags, geboren in Indonesien: Während de Blasio mit seinem republikanischen Rivalen Joe Lhota diskutiert, öffnet Laurens ihre Wohnung fürs kollektive Zuschauen. Die meisten, die hier sind, gehören durchaus zu den Gewinnern des New-York-Booms. Die begehrten Brownstones, Reihenhäuser aus braunem Sandstein, sind fünfmal so viel wert wie Anfang der Neunziger.
Favorit im Duell mit Lhota
Als krasser Außenseiter gestartet, gewann Bill de Blasio im September die Vorwahlen der Demokraten. Nun, im Duell mit Lhota, ist de Blasio der klare Favorit. Das Wall Street Journal reibt sich an ihm, spitzt es polemisch zu: "Zurück in die Siebziger", titelte das Blatt neulich und beschwor die alten Bilder der städtischen Talsohle herauf, U-Bahn-Wagons voller Graffiti, einen Times Square voller Pornoläden, unsichere Straßen. Das linksliberale New York wiederum überfrachtet den Mann aus dem Nichts mit vielleicht allzu hohen Erwartungen.
Lang galt de Blasio als Apparatschik der zweiten Reihe, erst im Wahlkampf sorgte er für Furore. Als ein staatliches Krankenhaus in Brooklyn wegen roter Zahlen geschlossen werden sollte, protestierte er vor Ort und ließ sich in Handschellen abführen. Für Großverdiener will er die städtische Einkommenssteuer erhöhen, von 3,9 auf 4,3 Prozent, um Krippenplätze für alle zu finanzieren. Und binnen zehn Jahren möchte er 200.000 bezahlbare Wohnungen bauen lassen, was bedeutet, dass die Monatsmiete 1275 Dollar nicht übersteigt.
Vor allem aber rückt er seine Familie ins Rampenlicht, eine Familie wie aus dem Bilderbuch der modernen USA. De Blasios Frau Chirlane McCray, eine Afroamerikanerin, lebte in einer lesbischen Beziehung, ehe sie Bill kennenlernte. Dante, sein 16-jähriger Sohn, trägt eine Afrofrisur wie einst Hendrix, nur dass die Locken heute kein Zeichen der Revolte mehr sind. "Haar ist einfach Haar", sagt der Junior, mit Klassenkampf habe das nichts zu tun. (Frank Herrmann aus New York, DER STANDARD, 24.10.2013)