Foto: Robert Haidinger

Bunte Wandmosaike konservieren Harlems Glanzzeiten des Jazz und Soul.

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Das 1913 erbaute Apollo-Theater erfüllt dagegen mit der "Amateurs Night" bis heute seine Rolle als Geburtshelfer für Stars.

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Harlems legendäre Hip-Hopper und Rapper sind längst kinderwagentauglich geworden: Als Guides führen sie heute persönlich durch die Musik- geschichte des Viertels.

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Service: New York Tourist Office

Themen-Touren für zum Beispiel Gospel oder Hip-Hop: www.harlemheritage.com

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Abyssinian Baptist Church, 138th Street, weit im Norden Manhattans. Eine lange Schlange wickelt sich um einen halben Häuserblock. Es ist nicht jene der Verderbnis, sondern eine Warteschlange von Besuchern aus aller Welt, gut durchmischt mit New Yorkern. Alle wollen den berühmten Gospelchor hören, und die Herren in dicken Kamelhaarmänteln, die den Zugang zur Kirche regulieren, genießen die Rolle der Schlangendompteure. Der Refrain, mit dem die Gäste zurückgescheucht werden: kein Einlass ins Gospelparadies. Zumindest nicht an diesem Sonntag. Halleluja!

Der graubraune gotische Bau liegt im Herzen Harlems, des berüchtigten New Yorker Viertels, wo Barber Shops noch für stundenlange Schwätzchen gut sind. Über mangelnde Nachfrage kann sich die Kirchengemeinde nicht beschweren. Ganz im Gegenteil. Die Abyssinian Baptist Church ist regelmäßig brechend voll. Aber weil sie echtes Harlemer Urgestein ist, trösten immer ein paar Showeinlagen über die Gospel-Pleite hinweg. Da wäre etwa der auffällige Mann mit dem dicken Turban und dem langen Kleid, das in weichen Falten vom mächtigen Brustkorb nach unten fällt. Er stellt sich als Edgar Kendricks vor.

Kendricks war einst Leader der Hausband des berühmten Clubs The Apollo, zwischendurch Komponist des Sesamstraße-Soundtracks, vor allem aber die göttlichste Stimme des Harlem Gospels, dem die New York Times erst vor kurzem eine ganze Porträtseite widmete. Jetzt hebt er theatralisch die Hände, schickt ein paar Töne Richtung Kirchendach. Der Himmel über Sänger Kendricks: eigentlich ein Basketballkorb, der irgendwann an der Abyssinian Baptist Church festgeschraubt wurde (siehe auch unser Cover). Kirche soll Spaß machen in Harlem, man sieht es den Menschen an.

Eine Szene mit Symbolgehalt. It's the music, stupid! Denn Musik als Leitmotiv des legendären Viertels klingt immer noch an. Der unüberhörbare Erfolg des zappeligen Harlem Shake war da bloß ein Revival neben vielen anderen. Der Youtube-Heuler aus dem Rucker Park ist aber mittlerweile schon wieder Kult von gestern. Wer heute die Incentive-Version einer Harlemer Hip-Hop-Tour bucht, kann auch Größen dieses Genres treffen: Grandmaster Caz oder DJ Kool Herc, der "Father of Hip-Hop", sind als Celebrity-Guides mit von der Partie. Oder Kurtis Blow, der Anfang der 1980er-Jahre als erster Rapper eine Goldene Schallplatte schaffte.

A wie Apollo

Über das große Erbe besteht kein Zweifel. Take the A Train hatte Duke Ellington die Einladung in New Yorks Norden einmal formuliert. Dass die goldenen Jahre der Blues- und Jazz-Clubs längst vorüber sind, kompensiert Harlem auf seine besondere Weise: Die breiten Koteletten sind geblieben. Die zahlreichen James-Brown-Doubles auch. Im legendärsten aller Clubs, dem Apollo Theater, kann man sie jeden Mittwoch sehen. Dann ist hier "Amateurs Night", eine jener Nächte, in denen immer wieder Stars geboren wurden: Soul-Godfather James Brown himself, vor ihm die unglaubliche Ella Fitzgerald, später Michael Jackson, um nur einige zu nennen.

Keine Frage: Das Apollo ist Harlems berühmtestes Wahrzeichen und offensichtlich ein Fixstern der Musikgeschichte. Denn manche Nightclubs haben die besten Zeiten hinter sich - für immer: Das Harlem Lafayette Theater, wo Orson Welles mit Macbeth New Yorker Theater- und Louis Satchmo Armstrong Musikgeschichte schrieb - dieser Club ist heute eine Kirche. Und der legendäre Cotton Club des Box-Champions Jack Johnson, später Gravitationszentrum von Mafiamogul Owney Madden, wurde bereits in den 1960ern abrasiert. Da soll man sich vom gleichnamigen, neuen "Cotton Club", der lieber auf steife Baumwollservietten und Jazz-Brunch-Atmosphäre setzt, nicht täuschen lassen. Anderes hält sich nur mit Ach und Weh, tönt eher in Moll: Der 1926 eröffneten Alhambra Ballroom, wo Billie Holidays Stimme in den Dreißigern Kristallluster klirren ließ und wo Weiße und Schwarze an unterschiedlichen Tagen zum Konzert antraben mussten, punktet jetzt mit einer Bowlingbahn.

Latenter Thrill

Doch zugleich erlebt Harlem ein neues Comeback mit nur teilweise alten Zutaten: eine Prise Szeneviertel, der Südstaatengeschmack des Soul Food und nicht zuletzt der raue Charme, der dem Viertel aus allen Ritzen strömt, sorgt für einen latent aufgekratzten Thrill in der Mittelschicht. Die für Manhattan noch einigermaßen leistbaren Mieten ziehen Architekturbüros ebenso wie Webdesigner und schicke Lokale an. Das stylische Aloft Harlem, die erste Hoteleröffnung im Revier seit Dekaden, oder die Bistrobar Red Rooster stehen dafür Pate.

Lokale Guides offerieren wiederum maßgeschneiderte Spaziergänge für jeden Geschmack: Sie führen etwa ins "Harlem der Gourmet Foodies" und also zu so fantastischen Locations wie dem Fairway Market. Das ist West Harlems gigantischer Bauch, der sich unter die Eisengerippe eines Subway-Viadukts duckt, und den man als Schauplatz wilder Autoverfolgungsjagden auf Anhieb wiedererkennt. Dann wären da noch die Architekturnachhilfestunden bei den "Neighbourhood Walks": Die drei- oder vierstöckigen Steinhäuschen samt Vorgärten, die sogenannten Brownstones, zählen zu den heißesten Tipps des New Yorker Immobilienmarkts. Um den Reiz dieser Steinhäuser zu ergründen, reicht ein kleiner Spaziergang zum burgartigen City College of New York. Es gilt ebenso als West Harlemer Urgestein wie die Old Broadway Synagoge oder die ruhige Strivers Row im Saint Nicholas Historic District - eine von Bäumchen gesäumte Gasse, deren Steinstufen mittlerweile in Anwaltspraxen führen.

Auch sie erzählen davon, dass Harlem ein wesentlicher Teil der Geschichte der Stadt am Hudson River ist. Ein Teil, der mit viel Herz geschrieben wurde, gilt Harlem doch als eine Wiege der Bewegung für die Rechte der Afroamerikaner. Martin Luther King, Malcolm X, Adam Clayton Powell jr. - sie alle haben hier große Reden geschwungen, von der Homebase Harlem aus die Massen begeistert. Und das Apollo-Theater schrieb ja auch deswegen Geschichte, weil es 1934 Schwarze und Weiße gemeinsam einließ.

Medizin und Lebensader

Am Martin Luther King Boulevard, den Anrainer einfach 125th Street nennen und der sich als Lebensader quer durchs Viertel nördlich des Central Parks zieht, verwandelt sich Harlem in den vielleicht saftigsten Big-Apple-Happen. Denn die Kommerzialisierung, die den südlicheren Straßenschluchten von jeher Insomnia beschert, zeigt hier zwar keine verschlafenen, aber zumindest freundlichere Gesichter: Stände mit afrikanischer Medizin und selbstbespielten Hip-Hop-Silberlingen, die vom polierten Chic Manhattans Lifestyle-Milchstraßen entfernt sind, finden sich in Harlem allerorts.

Da wäre etwa der Community Flea Market der Heilsarmee oberhalb der 137th Street oder der - weiter südlich zwischen Malcolm X und Fifth Avenue gelegene - Malcom Shabazz Harlem Market. Amulette aus Nigeria, Masken für mehr Fruchtbarkeit, Batikhemden neben abgetanzten Stöckelschuhen aus den Fifties und Vintage-Lederjacken, in denen vielleicht noch eine künftige Musikgröße durch die Gosse kugelt - alles da. Zudem bietet die herrliche Antithese zum "weißen" Sex and the City-Manhattan hier tätowierte Muskelmänner, die auf Laternenpfählen Klimmzüge machen, kanariengelbe Anzugträger in froschgrünen Kroko-Stiefeletten und solche mit himbeerfarbenem Afro. Und gleich hinter dem El Museo del Barrio, Fifth Avenue, Ecke 104th Street, quasi das offizielle kulturelle Zentrum von Spanish Harlem.

Wer hier mit einer "Street Walking Map" lokaler Museumskuratoren unterwegs ist, findet mehr als bloß Bruchstücke von Wandbildern. In der 106th Street passiert man die gigantischen "Graffiti Halls of Fame", also legal bemalte Wände, und geht vorbei an Commandante Che Guevara zu den besten mexikanischen Tacosbuden der Stadt.

Und dann wird East Harlem plötzlich ganz intim: Zucchini und Bohnen diverser Nachbarschaftsprojekte sprießen auf leerstehenden Parzellen, der puerto-ricanische Zuckerbäcker lädt Hochzeitstorten in seinen Minibus, und vor dem haushohen Wandbild Spirit of East Harlem schwatzt Exil-Kuba über "lotería" und "café". Hier döst Manhattan, wenn es sein muss, sogar am Nachmittag. (Robert Haidinger, DER STANDARD, Rondo, 25.10.2013)