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Für Ilse Helbich markiert der Ausstieg aus dem Familienverband einen Wendepunkt. "Meine eigenen Kinder haben es bestimmt nicht leicht gehabt, aber die Enkelgeneration ist eine ganz andere, freiere."

Foto: APA/Hochmuth

STANDARD: Frau Helbich, Sie sind vor ein paar Tagen 90 Jahre alt geworden. Was macht es für einen Unterschied, ob man in die neunte oder zehnte Dekade seines Lebensjahrhunderts geht?

Helbich: Ich falle jetzt manchmal in eine Art Halbtraum oder Trance am helllichten Tag. Das kann sehr schnell gehen. Da sitze ich dann in einem Raum, den ich nicht kenne, und in diesem Raum sind drei Leute, die ich nicht kenne und die sehr merkwürdig angezogen sind. Sie sind nicht bösartig, aber sehr, sehr fremd. Dann schaue ich hin und wieder weg und bin dann wieder ganz wach und denke mir, dass ich das eigentlich nicht mag, dass da fremde Leute in meinem Zimmer sitzen. Diese Übergänge sind für mich neu.

STANDARD: Erleben Sie diese Übergänge als Schau in ein Jenseits?

Helbich: Nein, das Jenseits interessiert mich immer weniger, eigentlich überhaupt nicht. Die Vorstellung davon, was das sein könnte, ändert sich innerhalb eines Lebens so viele Male, dass mir dieses Spekulieren nicht mehr besonders lohnend erscheint.

STANDARD: Ist das mit ein Grund dafür, dass Sie nach "Grenzland Zwischenland", in dem Sie Ihr eigenes Altern thematisieren, jetzt mit "Vineta" ein Buch vorgelegt haben, das sich einer Kindheit im großbürgerlichen Milieu im Wien der Zwischenkriegszeit zuwendet? Ging es Ihnen um die Beschreibung einer versunkenen Welt aus der Perspektive einer Zeitzeugin?

Helbich: Nicht so sehr. Über die Bilder bin ich zu einem Gefühl gekommen, das diese Zeit ausgemacht hat, und diesem Gefühl nachzuspüren ist mir als viel wichtiger erschienen als die faktische Beglaubigung einer Epoche.

STANDARD: Und die Person, die in der Zeit lebt und erlebt, fungiert im Text bloß als Träger dieses Gefühls?

Helbich: Ja, das Personale tritt als Rezeptor auf, und aus naheliegenden Gründen habe ich zu diesem Zweck mich selbst herangezogen, aber eigentlich nur, um dieses Zeitgefühl zu fixieren.

STANDARD: Wie ließe sich dieses Zeitgefühl mit wenigen Worten beschreiben?

Helbich: Nach außen hin war da etwas sehr Weiches, aber darunter, im Verborgenen, lag eine unglaubliche Gewaltsamkeit - auch im Privaten. Im Öffentlichen kam es ja raus, 1934 und später, aber natürlich geht das Drama immer von der Familie aus.

STANDARD: Ihre war damals eine sehr wohlhabende und angesehene Familie in Wien.

Helbich: Ja, und die Geschichte der Familie gäbe genug Material für ein Shakespeare-Drama her.

STANDARD: Ist ein Ende dieses Dramas absehbar?

Helbich: Ich hoffe es. Auch wenn das etwas hochnäsig klingt, denke ich, dass mein Ausstieg aus dem Familienverband den Wendepunkt markiert. Meine eigenen Kinder haben es bestimmt nicht leicht gehabt, aber die Enkelgeneration ist eine ganz andere, freiere.

Standard: Was meinen Sie mit "Ausstieg"?

Helbich: Ich bin nach 30 Jahren aus der Familie, also von meinem Mann weggegangen, weil ich das Gefühl hatte, das ist alles nicht zu halten. Die Kinder waren furchtbar dagegen und haben alle möglichen Intrigen gespielt, damit wir wieder zusammenkommen.

STANDARD: Sie schreiben einmal, Sie hätten sich mit aller Kraft gegen den "Schreibauftrag" gewehrt, den Sie als Kind spürten. Warum?

Helbich: Weil mir meine eigenen Texte beim Vorlesen furchtbar gelogen vorgekommen sind und ich das Gefühl hatte, dass ich das nicht darf, dass es mich wohin führt, wo es sehr verlockend, aber auch sehr unkontrollierbar ist. Also habe ich es mir verboten.

STANDARD: Ist Ihnen Kontrollierbarkeit heute noch wichtig?

Helbich: Immer weniger, hoffe ich. Aber als Kind war ich sehr auf mich gestellt und hatte früh das Gefühl, dass ich für mein Leben selbst, und zwar ausschließlich selbst verantwortlich bin, dass da einfach niemand ist, der gut und total auf mich schaut. Das klingt sehr blöd, aber in gewisser Weise hat es gestimmt.

STANDARD: Würden Sie sagen, dass das, was Sie den "Wendepunkt" genannt haben, auch so etwas wie ein Sieg der Widerständigkeit über die Angepasstheit gewesen ist?

Helbich: Von einem heutigen Standpunkt aus betrachtet: ja. Aber in der Situation selbst waren viele Entscheidungen auch aus einer Art Schicksalsgläubigkeit gespeist, aus dem Bewusstsein und der Überzeugung, dass das Grundsystem des Lebens Tragödie heißt und auf jeden Fall mit einem schlechten Ausgang verbunden ist, es also auch tatsächlich darum geht, sich zu fügen, die einem zugedachte Rolle anzunehmen.

STANDARD: Bei welcher Vorstellung über das Grundsystem des Lebens sind Sie inzwischen angekommen?

Helbich: Vielleicht genügt es, dass ich mich vom System Tragödie verabschiedet habe. Aber ich bin unlängst wieder unangenehm aufgefallen, als ich in einer Diskussion erzürnt aufgestanden bin und heftig dagegen protestiert habe, dass das Leben immer gut ausgehe. Manchmal geht das Leben saumäßig schlecht aus.

STANDARD: Ist die Rede von der Altersversöhnlichkeit ein Märchen?

Helbich: Das kommt darauf an, was Sie unter einem Märchen verstehen. Eines der eindringlichsten Märchen, die ich kenne, ist jenes, das die Großmutter in Büchners Woyzeck den Kindern erzählt.

STANDARD: Möchten Sie es uns nacherzählen?

Helbich: Da halte ich mich lieber an den Originaltext: "Es war einmal ein arm Kind und hat kei Vater und keine Mutter war Alles tot und war Niemand mehr auf der Welt. Alles tot, und es ist hingangen und hat gerrt Tag und Nacht. Und wie auf der Erd Niemand mehr war, wollt's in Himmel gehn, und der Mond guckt es so freundlich an und wie's endlich zum Mond kam, war's ein Stück faul Holz und da ist es zur Sonn gangen und wie's zur Sonn kam, war's ein verwelkt Sonneblum. Und wie's zu den Sterne kam, warn's klei golde Mücken, die warn angesteckt wie der Neuntöter sie auf die Schlehe steckt und wie's wieder auf die Erd wollt, war die Erd ein umgestürzter Hafen und war ganz allein und da hat sich's hingesetzt und gerrt, und da sitzt' es noch und ist ganz allein."

STANDARD: Ein bitteres Märchen.

Helbich: Ja, aber ich kenne diese Seite des Lebens sehr, sehr gut. Natürlich gibt es auch die andere Seite. Ich denke, es kommt darauf an, dass man beide sieht.

STANDARD: Also geht es doch um Versöhnung?

Helbich: Nicht unbedingt. Es geht vor allem darum, dass man den Kopf über Wasser hält, solange es halt irgendwie geht. Wirklich schwierig wird es erst, wenn es einem den Kopf unter Wasser drückt, das Leiden so verinnerlicht ist, dass man es nicht mehr artikulieren kann.

STANDARD: Haben Sie denn davor Angst?

Helbich: Angst würde ich das nicht nennen.

STANDARD: Sondern wie?

Helbich: Darf ich Ihnen mit der letzten Strophe aus meinem Lieblingsgedicht, Gottfried Kellers Abendlied, antworten?

STANDARD: Gern.

Helbich: "Doch noch wandl' ich auf dem Abendfeld, / Nur dem sinkenden Gestirn gesellt; / Trinkt, o Augen, was die Wimper hält, / Von dem goldnen Überfluß der Welt." (Josef Bichler, Album, DER STANDARD, 25.10.2013)