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Carl Djerassi, großer Vermittler zwischen den "zwei Kulturen" der Naturwissenschaft und der Kunst.

Foto: apa

Wien - Seinen 90. Geburtstag verbrachte Carl Djerassi am Dienstag in Frankfurt am Main. Der Anlass: Der Miterfinder der "Pille", der nach dem "Anschluss" als 15-Jähriger vor den Nazis aus Wien flüchten musste, erhielt sein 32. Ehrendoktorat (nach anderen Quellen sein 27.). Dass es jenes der Goethe-Universität ist, trifft sich besonders gut, weil der "intellektuelle Bigamist" (Djerassi über Djerassi) ähnlich wie Goethe sowohl als Forscher als auch als Schriftsteller Bemerkenswertes leistete - wenn auch mit etwas anderer Gewichtung.

Carl Djerassi wurde am 29. Oktober 1923 als Sohn eines bulgarischen Vaters und einer österreichischen Mutter, die für die Heirat die bulgarische Staatsbürgerschaft annehmen musste, in eine jüdische Familie in Wien geboren - als bulgarischer Staatsbürger. Seine frühe Kindheit verbrachte er in Bulgarien. Als sich die Eltern scheiden ließen, zog er mit seiner Mutter nach Wien. Nach dem März 1938 floh er über Bulgarien in seine Wahlheimat USA, promovierte mit 21 in Chemie und forschte dann für die Firma Syntex in Mexiko.

Dort war er gleich an zwei Durchbrüchen beteiligt, über deren Kontexte man in Djerassis mittlerweile vierter Autobiografie "Der Schattensammler" (Haymon 2013) mehr erfährt. Zum einen gelang ihm und seinem Team die erste Synthetisierung des Hormons Cortison, wodurch dessen Massenproduktion möglich wurde, und zum anderen 1951 die Synthetisierung des Sexualhormons Norethisteron, was ihn zur chemischen "Mutter der Pille" machte (so der Titel einer früheren Autobiografie). (Die deutsche Bezeichnung "Antibabypille" lehnte Djerassi übrigens strikt ab, weil die oral einzunehmende Verhütungspille nicht gegen Babys gerichtet sei, sondern für Frauen entwickelt wurde.)

Von "Science" zur "Fiction"

Es folgte eine steile akademische Karriere mit rund 1000 Veröffentlichungen, einer Professur an der Stanford University in Kalifornien (wo er 2002 emeritierte) und mit vielen wichtigen wissenschaftlichen Auszeichnungen (mit Ausnahme des Nobelpreises). Langsam wandte sich Djerassi von der rein naturwissenschaftlichen Forschung ab und beschäftigte sich mehr und mehr mit Fragen rund um die gesellschaftlichen Auswirkungen biomedizinischer Forschung, was letztlich zu einer zweiten Karriere als Schriftsteller führte.

Nach kürzeren Texten debütierte er 1989 mit "Cantors Dilemma" als Romancier - ganz gemäß Udo Jürgens Diktum, dass mit 66 Jahren das (zweite) Leben anfängt. Es folgten drei weitere Romane: "Das Bourbaki Gambit", "Menachems Same" und "NO", die gemeinsam mit "Cantor Dilemma" eine Tetralogie bilden und von Djerassi dem von ihm erfundenen Genre "Science-in-Fiction" zugerechnet werden. Damit nicht genug, wechselte Djerassi ins dramatische Fach und schrieb etliche Theaterstücke, in denen es ebenfalls meist um Wissenschaft geht. 

In viele der Texte sind aber auch etliche Themen des eigenen Lebens eingearbeitet, wie der nicht ganz uneitle Jubilar in "Der Schattensammler" bereitwillig, meist auch kurzweilig und klug erhellt: etwa die Fragen rund um die Pille, seine Heimat(losigkeit) (Djerassi pendelt heute zwischen San Francisco, London und Wien) oder seine Identität als säkularer "Jude" (Anführungszeichen im Original).

Aber auch auf die privaten Krisen wie den Selbstmord seiner Tochter oder den frühen Tod seiner dritten Frau, der Literaturwissenschafterin Diane Middlebrook, geht Djerassi in aller Offenheit und Öffentlichkeit ein. Etwas quälend wird es nur dann, wenn die Sprache auf gekränkte Eitelkeiten kommt (etwa die von Djerassi beklagte Undankbarkeit der Universität Stanford) – und auch davon findet sich einiges im "Schattensammler". 

Der Jubilar als Sammler

Djerassi ist aber nicht nur Sammler von "Schatten" und Ehrendoktoraten, sondern auch von Kunst: Mit über 150 Werken besitzt er eine der größten Paul-Klee-Privatsammlungen, die er zur Hälfte dem Museum of Modern Art in San Francisco und der Albertina vermacht hat. Zudem begründete er mit seinem Vermögen eine Künstlerkolonie in der Nähe von San Francisco (SMIP), die Djerassi-Stiftung sowie das "Djerassi Resident Artist Program" zur Förderung von Malern, Musikern, Schriftstellern und Bildhauern.

Als Chemiker sei er Amerikaner, meinte Djerassi einmal. Seine künstlerische Entfaltung als Autor sah er hingegen als "Stempel, den meine Kindheit in Wien in mir hinterlassen hat. Der hat sich sehr spät ausgewirkt." Noch später, nämlich vor rund zehn Jahren, kam es dann auch zu einer Art Versöhnung mit Österreich und Wien, wobei versöhnt für Djerassi nicht "vergeben" oder "vergessen" bedeutet, "sondern nur, dass es weitergeht".

In diesem Sinne: "Ad multos annos!" (tasch, derstandard.at, 29.10.2013)