Claudius Stein leistet als Leiter des Wiener Kriseninterventionszentrums Trauerarbeit.

Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Sie wurden einmal bei einer Veranstaltung als Abschiedsexperte vorgestellt. Kann man das denn sein, Experte für Abschiede?

Stein: Nicht wirklich. Ich würde es als Erfahrung bezeichnen. An die 20 Prozent der Klienten, die ich begleite, sind mit Todesfällen konfrontiert. Viele Menschen sind dabei mit Träumen, Fantasien und Gefühlen konfrontiert, die für sie erschreckend oder ungewohnt sind. Daher ist es hilfreich, wenn jemand einem vermittelt, dass das zu einem "normalen" Trauerprozess dazugehört.

STANDARD: Gleichzeitig trauert doch jeder anders?

Stein: Trauerprozesse sind individuell, dennoch gibt es Dinge, die bei vielen ähnlich sind. Das Allerwichtigste ist, über den Verstorbenen zu reden. Wichtig ist dabei ein guter Zugang zur inneren Gefühlswelt. Es klingt klischeehaft, aber oft tun sich da Männer schwerer.

STANDARD: Wann braucht jemand professionelle Hilfe?

Stein: Viele Menschen brauchen sie nicht, haben ein gutes Umfeld, einen guten Zugang zu sich selbst. Aber wenn jemand gar nicht trauern kann oder lang depressiv ist oder jemand ein Zimmer des Verstorbenen sehr lange unverändert lässt, weist das darauf hin, dass etwas hakt. Man soll sich dann nicht davor scheuen, Hilfe zu holen.

STANDARD: Wie geht es Ihnen persönlich mit dieser vielen Trauer?

Stein: Es gibt Situationen, die schwieriger sind als andere: Der Tod von Kindern ist schon etwas sehr, sehr Belastendes, auch in der Begleitung. Aber es gelingt über die Jahre immer besser, zu sagen: Es ist wichtig, dass dieser Mensch bei mir ist, und dass ich da mitschwinge, aber es nicht zu sehr auf mein Leben abfärbt. Ich finde es sehr beeindruckend, wie Menschen aus ganz, ganz schwierigen Situationen finden.

STANDARD: Sie sagten, Sie schwingen mit. Wie?

Stein: Es ist zum Beispiel für Menschen, die gar nie mit Trauer zu tun haben, gar nicht so leicht, es auszuhalten, dass jemand einfach ein paar Minuten nur da sitzt und weint. Es braucht jemanden, der das aushalten und begleiten kann und der nicht beschwichtigt - das meine ich mit Mitschwingen. Es muss nicht sofort etwas passieren, damit der Schmerz aufhört. Es kann nicht einfach ein Pflaster über die Wunde geklebt werden. Ich kenne keine Methode, die einen Trauerprozess abkürzt.

STANDARD: Sie sagten vor vier Jahren in einem Interview zur Wirtschaftskrise, dass seit Mitte 2008 immer mehr Menschen nicht mehr allein aus der Krise finden. Wie hat sich das seither entwickelt?

Stein: Man hat den Eindruck, dass die Folgen der Wirtschaftskrise - diese Verunsicherung - nach wie vor eine große Rolle spielen.

STANDARD: Kann die Gesellschaft aus einer Krise wachsen wie der Einzelne?

Stein: Gesellschaftspolitisch hat man nicht den Eindruck, dass da viel gelernt wurde. Das finde ich beängstigend. (Gudrun Springer, DER STANDARD, 31.10.2013)