
"Ich wünsche mir, dass ich bei mir sein kann": Karl Markovics, zwischen Sterbebetten im Hospiz.
Nach dem Tod meines Großvaters verlor das Leben meiner Großmutter seinen letzten Inhalt. Die fünf Kinder waren seit langem erwachsen, hatten selbst Kinder und Enkelkinder. Das Kaiserreich, die Erste Republik, zwei Diktaturen und zwei Weltkriege hatte meine Großmutter überlebt, doch den Verlust ihres Mannes verkraftete sie nicht mehr. Der Tod meines Großvaters bedeutete für sie nicht nur den Verlust eines durch und durch vertrauten Menschen, sondern den Verlust der Gegenwart selbst. Die Trauer hielt sie noch ein paar Jahre auf den Beinen, dann wurde sie krank und bettlägrig und musste schließlich ins Spital.
Meine Großmutter gehörte zu jener Generation, die stärker als jede andere zuvor und danach vom Fortschritt "überrollt" worden war. Ihr Zuhause befand sich in der Kainachgasse im 21. Wiener Gemeindebezirk. Gegenüber türmten sich die Siebzigerjahre in Gestalt von Gemeindebauten, auf der anderen Seite lagen kleine Häuschen auf winzigen Parzellen, kaum größer als Schrebergärten. In einem davon lebte meine Großmutter.
Als ihr mein Vater kurz nach dem Tod meines Großvaters eine Zentralheizung mit Raumthermostat einbauen ließ, hob sie jedes Mal, wenn die Therme ansprang, den Finger und meinte: "Ah, heizen S' schon wieder." In ihrer Vorstellung saß irgendwo ein Maschinist von den Wiener Stadtwerken, der für sie das Gerät an- und abstellte.
Mit dem Telefon war sie zwar vertraut, aber sie traute ihm nicht. Es war teuer, wenn man es benützte und bedrohlich, wenn es klingelte. Radio und Fernsehen waren mit der Zeit zwar zu gewöhnlichen Wundern geworden, die man aber ebenso selten benutzte, wie das Telefon; nicht nur, weil man ihre innere Funktion nicht begriff, sondern weil man ihre äußere mehr fürchtete als genoss. Das mochte auch an den beiden Weltkriegen gelegen haben, die meine Großeltern miterlebt hatten.
Als es schließlich mit meiner Großmutter zu Ende ging und sie ins Spital musste, setzte mein Vater alles daran, sie nicht dort sterben zu lassen. Er brachte sie zu uns nach Hause. Damals war ich achtzehn oder neunzehn Jahre alt und ich erinnere mich noch gut, dass ich nachts manchmal in das Zimmer kam, in dem sie lag. Und weil sie nur noch liegen konnte und Tabletten gegen das Wasser in ihren Beinen und in ihrer Lunge bekam, verlor sie auch jegliches Gefühl für Tag und Nacht - es war kein Schlafen und kein Wachsein, in dem sie sich befand, sondern ein pendelnder Dämmerzustand.
"Ich will nach Hause"
Unter all den Fantasien und Erinnerungen, die sich in ihrem Zustand zu rätselhaften Tagträumen vermischten, gab es aber einen glasklaren Gedanken, den meine Großmutter präzise zu formulieren imstande war und den sie auch immer aussprach, sobald man an ihr Bett trat, oder sie durch eine Berührung die Gegenwart eines anderen spürte. Sie sagte: "Ich will nach Hause." Meinem Vater brach es fast das Herz. Selbst die fürsorglichste Pflege, selbst die privateste Umgebung konnten ihr nicht das geben, was sie als Letztes wollte - ihr Zuhause.
Der Philosoph und Begründer der Essayistik, Michel de Montaigne, prägte das Wort, man möge dem Tod mit Freundlichkeit begegnen. Im Gegensatz zu vergangenen Zeiten hat das Sterben, hat der Tod in der heutigen Gesellschaft nur noch wenig Platz. Der medizinisch-technische Fortschritt ermöglicht es, das Unweigerliche auf unbestimmte Zeit hinauszuzögern. Der Tod ist heute oftmals eine Sache von Verfügungen. Eine Sache der nächsten Angehörigen, die darüber entscheiden, wie lange lebenserhaltende Maßnahmen aufrechterhalten werden sollen. Sterben selbst wird nicht mehr als das gesehen, was es ist: Als Teil des Lebens. Dabei bietet gerade die Auseinandersetzung mit dem Tod die Möglichkeit, dem Sinn des eigenen Lebens ein Stück weit auf den Grund zu gehen. Auch wenn diese Auseinandersetzung keine klaren Antworten liefert, so steht am Ende dieser Reflexion doch eine ganz entscheidende Frage: Lebe ich schon heute so, wie ich am Ende meines Lebens gelebt haben möchte?
Dem Tod mit Freundlichkeit zu begegnen - das gelingt wohl nur dem, der sich dieser Frage immer wieder von neuem stellt; der mit eben dieser Perspektive auf das eigene Leben blickt. Insofern hat der Tod vor allem mit Leben und nur ganz am Schluss mit Sterben zu tun.
Einrollen wie ein Tier
Wenn ich einmal sterben werde, wünsche ich mir, dass ich "bei mir sein kann"; dass jene Menschen, die mir die wichtigsten sind, bei mir sind, dass sie mir nicht vormachen, es würde schon wieder werden und dass ich erleben kann, wie ich sterbe - ohne Schmerzen und ohne Angst. Ich möchte nicht im Schlaf sterben. Ich möchte bewusst und wach in der Gesellschaft der Menschen, die mir am meisten bedeuten und denen ich am meisten bedeute, sterben. Ich möchte diesen Moment mit einem Blick auf meine Frau und meine Kinder im wahrsten Sinne des Wortes bewusst erleben. Und dann möchte ich mich einrollen wie ein Tier in seinem Bau. Das wünsche ich mir, wenn es so weit ist. (Karl Markovics, DER STANDARD, 31.10.2013)