Schriftsteller Peter Henisch fühlt sich als radikaler Individualist, Immigrations- und Bildungspolitik erzürnen ihn. Warum echte Linke nie an die Macht kommen können, und wie es einst in seiner Wohngemeinschaft zuging, erfragte Renate Graber.
STANDARD: Müssen wir leise reden?
Henisch: Nein, warum?
STANDARD: Um Ihre Nachbarin, die Psychologin, nicht zu stören.
Henisch: Nein, nein, das ist eher im Sommer ein Thema, wenn die Tür zum Innenhof offen ist. Und wenn sie da drüben dann Familienaufstellungen machen ...
STANDARD: Schummeln Sie sich ab und zu rein?
Henisch: (lacht) Nein, ich schreibe Bücher. Das ist ja auch ein analytischer Prozess.
STANDARD: Die einen schreiben, die anderen gehen zu Therapeuten.
Henisch: Wenn man wählen darf, ist das Schreiben die bessere Möglichkeit. Aber es gibt natürlich auch Autoren, die an Ihrer Selbsttherapie zugrunde gegangen sind, am Immer-wieder-Rekapitulieren derselben Probleme. Kafka etwa.
STANDARD: In Ihrem Roman über Karl May und Kafka treffen die zwei einander auf der Passage nach Amerika. Sie haben als Bub all Ihre Karl-May-Bücher verkauft, als Sie draufkamen, dass Karl May gar nicht über eigene Reiseerlebnisse geschrieben hat?
Henisch: Und um das Geld habe ich mir Hemingway und Dostojewski gekauft. Es gibt übrigens inzwischen Kafka-Forscher, die davon ausgehen, dass Kafka in seiner Jugend Karl May gelesen hat. Das haben damals alle getan, ich halte das also auch für wahrscheinlich.
STANDARD: Und wenn Sie nicht schrieben, dann wären Sie Musiker geworden?
Henisch: Ja. Ich wäre wahrscheinlich Liedermacher geworden und geblieben; leider ist in Österreich der Austro-Pop immer seichter geworden. Aber dafür, dass ich kein Austropopper geworden bin, dafür danke ich Gott.
STANDARD: Sie lieben die Doors, über Jim Morrison, der der gleiche Jahrgang war wie Sie, haben Sie einen Roman geschrieben.
Henisch: Der hat mich wirklich sehr beeindruckt.
STANDARD: Weil wir schon bei Musikern sind: Warum wollten Sie als Bub ausgerechnet aussehen wie Beethoven?
Henisch: Er hat mir viel besser gefallen als Mozart, vom Denkmal her. Diesen Rokoko-Mozart im Burggarten fand ich peinlich, der Beethoven mit seinem Titanen-Kopf am Beethoven-Gang, wo ich oft mit meiner Oma war, dagegen hat mich beeindruckt: Viel imposanter als der Mozart mit seinem Zopferl. Auch seine Musik war mir lieber, dieses Ernsthafte, diese Moll-Töne. Ich war ein Kind, das ernsthaft sein wollte.
STANDARD: Sie sagen Literatur sei "eine Bewegung gegen den Tod, ein Akt der Renitenz". Sie wirken gar nicht renitent, sind Sie's?
Henisch: Meine Renitenz trag ich halt nicht auswendig. Ich bin ein sehr sanfter, gutmütiger und kein unglücklicher Mensch, aber manchmal krieg' ich einen heiligen Zorn.
STANDARD: Die Ungerechtigkeiten der Welt erzürnen Sie, oder?
Henisch: Ja, die Reaktion der Politik auf die Immigrationsproblematik im Mittelmeer etwa, die macht mich wütend.
STANDARD: Sie schreiben in dem Zusammenhang, "der Mangel an Empathie ist die Sünde, die Schande dieser Welt". Worauf führen Sie diesen Mangel zurück?
Henisch: Auf Blödheit und Verblödung. Aus der österreichischen Weltecke gesehen sind es ja für heute schon völlig unvorstellbare Vergangenheitsnachrichten, dass die Großparteien einst Bildungspolitik im Sinne hatten. Die Schwarzen und die Roten, in der Zwischenkriegszeit und in den 50ern und frühen 60ern, da gab es noch Arbeiter- und Volksbildung. Heute lassen sie die Leute verblöden und verblöden selbst dabei.
STANDARD: Als junger Linker, 1972, wollten Sie über Ernst Bloch dissertieren. Ihr Doktorvater lehnte das ab, es gebe schon zu viele linke Dissertationen. Sie sagten damals, Sie seien „kein klassischer Linker". Was ist ein klassischer Linker?
Henisch: Ein Sozialdemokrat der Zwischenkriegs- oder frühen Nachkriegszeit oder ein Kommunist. Beides bin ich nicht, ich gehöre keiner Partei an. In der Zeit, als diese Episode mit meiner Diss spielte, waren die Neuen Linken ein Phantom oder eine wirkliche Kraft, bei uns an der Uni gab es zudem die Maoisten und die Trotzkisten. Ich habe das alles nur vom Rande aus mitbekommen, hatte immer eine Allergie gegen Gruppen, die sich uniformieren, marschieren oder Fahnen schwenken. Hat auch mit der Geschichte meines Vaters zu tun.
STANDARD: Er hatte eine jüdische Mutter, hat aber als Kriegsfotograf für die Nazis gearbeitet. Sie haben das in "Die kleine Figur meines Vaters" verarbeitet. Werden Sie ihm im Alter eigentlich ähnlich?
Henisch: Ich habe mich in diesem Buch deutlich vom Opportunismus meines Vaters abgegrenzt. Aber ich habe ihm trotz allem viel zu verdanken. Ich bin so freiheitsliebend wie er, er wollte fotografieren, ich will schreiben. Und: Ich mache genauso ungern Steuererklärungen wie er. (lacht)
STANDARD: Weil wir bei Ihrer Aversion gegen Gruppen waren: Sie waren noch nie in der SCS, der Lugner City oder auf der Donauinsel?
Henisch: Einmal war ich in der SCS, wollte Bücherregale kaufen ...
STANDARD: Bei Ikea?
Henisch: Genau. Aber ich habe mich verirrt. Es schaut ja alles überall gleich aus, diese Einkaufszentren sind ein Muster der Globalisierung.
STANDARD: Einzelgänger sind Sie aber auch keiner. Sie haben sogar kurz in einer Wohngemeinschaft gelebt, mit Helmut Zenker, dem späteren "Kottan"-Autor.
Henisch: Einzelgänger bin ich keiner, vielleicht bin ich ein radikaler Individualist. Ich glaube, das habe ich von meiner Oma. Sie hätte sich bei unseren Spaziergängen nie auf eine Bank gesetzt, auf der schon wer sitzt.
STANDARD: In Ihrer WG waren Sie auch ein Abweichler. Da flogen Sie raus, weil Sie Bier statt Saft wollten, und Servietten. Ging ziemlich autoritär zu, bei den 68ern.
Henisch: Ja, und bis zum Gruppensex sind wir nie gekommen. In unserer WG lebten nur die Ehepaare Zenker und Henisch, zwei Amerikaner, unser Sorgenkind Friedemann Bayer, im Grund genommen ein Sozialfall – und Zenkers Großmutter. „Wohngemeinschaft mit Großmutter": eigentlich ein guter Titel. Als die sexuelle Befreiung versucht wurde, hat sie immer dreingeredet und uns erzählt, wozu das alles führen wird. Jedenfalls: Ob damals in den Kommunen, in unserer WG, im Christentum oder im Sozialismus: Es gibt immer wieder Leute, die durch die Hintertür ihre eigenen autoritären Tendenzen einschleusen und anderen anschaffen wollen, wie sie leben, lieben, essen, trinken und schreiben sollen.
STANDARD: Aus dem Wespennest, der "Zeitschrift für brauchbare Texte", die Sie mit Helmut Zenker gegründet haben, sind Sie auch wegen Abweichlertums rausgeflogen: Sie haben eine Kolumne für "Die Presse" geschrieben.
Henisch: Ja, in einem "bürgerlichen" Organ wie der Presse zu schreiben, war für meine Kollegen vom Wespennest reaktionär.
STANDARD: Der Rauswurf kränkt Sie bis heute?
Henisch: Ja, das hat mich sehr getroffen.
STANDARD: Schriftsteller und Philosoph Franz Schuh sagt, Sie seien damals Herzenssozialisten gewesen. Und Sie seien die wahren Verlierer, weil sich die Arbeiter ohne Ihr Zutun emanzipiert hätten. Sehen Sie das auch so?
Henisch: Ja, Herzenssozialismus passt - und dazu kommt bei mir romantisches Urchristentum mit einer gesunden Neigung zum Hedonismus.
STANDARD: Gibt es eigentlich heute noch Linke?
Henisch: Es wird schon noch welche geben. Aber die kommen nie an die Macht. Wer wirklich links ist, kann gar nicht ins Zentrum der Macht kommen.
STANDARD: Wer ist wirklich links?
Henisch: Wer kritisch ist gegenüber der etablierten Macht. In Bulgakows "Meister und Margarita", ein Buch, das ich sehr liebe, heißt es so: "Alle Macht ist Unrecht." So ist es: In dem Moment, in dem man mit der Macht in Beziehung tritt, ist es vorbei. Nehmen Sie Obama: Was hat er inzwischen am Gewissen? Ich weiß nicht, ob er das alles so wollte, aber: Es passiert.
STANDARD: Bleibt: die Anarchie?
Henisch: Anarchie kann mörderisch sein. Man müsste sich ja nur an die Bergpredigt halten, dann sähe die Welt anders aus. Weil sich aber keiner dran hält, hat die Erlösung nicht stattgefunden. Es hat auch niemand mehr eine Ahnung, was Nächstenliebe ist.
STANDARD: Sie vergessen die FPÖ.
Henisch: Genau. Aber dass die dieses Wort überhaupt in den Mund nehmen, ist die größte Chuzpe.
STANDARD: Sie müssten sich bei der Nächstenliebe auskennen, Sie lesen die Bibel so gern. Warum?
Henisch: Weil sie ein gutes Buch ist, stellenweise hinreißend.
STANDARD: Ihre Lieblingsstelle?
Henisch: Magdalena kommt ans Grab, und der Leichnam ist weg. Sie ist verzweifelt. Als jemand hinter ihr steht, denkt sie, das sei der Gärtner und fragt ihn, wohin er den Leichnam Jesu gebracht hat. Da sagt er: "Maria?" Und an seiner Stimme erkennt sie ihn. Dieser Augenblick des Nichterkennens und dann Erkennens, der ist riesig, ein literarisch unglaublich gelungener Text. Obwohl mich das Johannesevangelium sonst nicht überzeugt; denn ein Jesus, der von der Krippe an weiß, dass er Jesus ist und auferstehen wird und bis dahin eben einen Abenteuerurlaub als Mensch absolvieren muss, ein Jesus, der von Anbeginn weiß, dass er als Sieger hervorgehen wird und am Schluss die Welt richten wird: Das spricht mich nicht an. In meiner Vorstellung war Jesus ein Zweifler, er wusste nicht, ob er überhaupt in die Messias-Rolle schlüpfen soll. Sie sehen, ich bin auch ein anarchistischer Christ.
STANDARD: Sie stammen aus einer teilweise jüdischen Familie, sind links – und Mitglied der katholischen Kirche. Sie wollten einst Lesungen halten, statt Kirchenbeitrag zu zahlen?
Henisch: Stimmt, aber ich wollte nie aus der Kirche austreten. Und der neue Papst gefällt mir, er denkt nach und hat etwas zu sagen.
STANDARD: Woher kommt Ihre religiöse Ader? Hat die mit Ihrem Religionslehrer, dem später suspendierten Priester Adolf Holl zu tun?
Henisch: In der siebenten Klasse habe ich jedenfalls kurz erwogen, Priester zu werden.
STANDARD: Sie könnten Abt sein.
Henisch: Ich könnt schon Papst sein! (lacht)
STANDARD: Weil wir bei Ihrer Jugend waren: Sie spazierten mit Ihrer Oma, der Sie auch einen Roman gewidmet haben, viel durchs Nachkriegs-Wien. Ihr Lieblingsort?
Henisch: Meine Lieblingsorte sind die, die mir unter den Füßen weggebaggert wurden. Die Peripherie in Favoriten, die Fähre am Erdberger Donaukanal-Ufer: Das Wien, das ich geliebt habe, gibt es nur noch in meinem Kopf. Bis auf die Meierei im Volksgarten, die war auch der Lieblingsort meiner Oma. Was ich vermisse, ist das ziegelrote Wien, diese stehengebliebenen 20er Jahre, der Übergang von der Stadt zum Land, vom Gestern zum Heute, die Gegenden, wo Wildwuchs herrschte. Das Inzersdorfer Ziegelwerk war herrlich: An seinen Abhängen haben wir gespielt, Kugerln, Statuen aus Lehm gemacht. Es sah aus wie der Grand Canyon – und unten war das Ziegelwerk. Heute gibt es dieses Gewachsene nicht mehr, nichts darf mehr seine eigene Geschichte erzählen, es wird alles glattgemacht und zugespachtelt.
STANDARD: Nichts darf alt aussehen?
Henisch: Man darf nicht sehen, was drunter ist. Bei Nietzsche heißt es: Das Tier lebt kurz angebunden an den Pflock des Augenblicks. Die meisten unserer Zeitgenossen leben genau so, erinnern sich kaum noch an die Zeit vor der Jahrtausendwende. Wir leben in der Geschichtslosigkeit.
STANDARD: Klingt traurig. Einer Ihrer Freunde beschreibt Sie als optimistischen Melancholiker. Was stimmt Sie optimistisch?
Henisch: Wieso bin ich, der ich den Zustand der Welt besorgniserregend finde, optimistisch? Gute Frage. Ich hatte eine sehr schöne Kindheit, vielleicht macht das meinen Grundoptimismus aus.
STANDARD: Sie sagen, man brauche "ein ganzes Leben, um eine gute Position zum Tod zu finden". Haben Sie schon eine?
Henisch: Ich versuche mich damit abzufinden, dass mein Leben nicht mehr so lange dauern wird, wie es schon gedauert hat. Ich würde gern meine erwachsene Tochter noch länger begleiten, würde gern 120 werden. Wenn ich in fünf Jahren sterbe, erspar ich mir aber vielleicht etwas, angesichts des Zustands der Welt.
STANDARD: Wer stirbt, erspart sich die Zukunft.
Henisch: Aber die könnt schon auch schön sein.
STANDARD: Worum geht's im Leben?
Henisch: Für mich ums Schreiben und ums Lieben. (STANDARD, 2.11.2013)