Meditationen über das Prinzip Gewalt, das nicht nur im Kolonialismus drinsteckt: Hofesh Shechter lässt demnächst auch in St. Pölten die "Sonne" aufgehen. 

Foto: gabriele zucca

 An diesem Abend sieht es so aus, als hätte er geschafft, wovon viele Choreografen vergeblich träumen. Der Londoner Tanzpalast Sadler's Wells mit 1500 Sitzen ist bei der Europapremiere von Hofesh Shechters neuem Stück Sun brechend voll. Die Uraufführung hat der 38-Jährige vor kurzem beim Melbourne Festival absolviert. Darauf konnte er sich in einer Künstlerresidenz im Festspielhaus St. Pölten vorbereiten, wo Sun am 7. Dezember zu sehen sein wird.

Sadler's Wells ist eine der Acht-Millionen-Metropole angemessene Institution im gepflegten Stadtteil Islington, wo gleich zwei Universitäten residieren. Und zwei Gefängnisse. In diesen saßen zu Beginn des 20. Jahrhunderts zahlreiche Suffragetten ein, die für ihr Wahlrecht kämpften, und vor ein paar Jahren auch einmal der Pop-Barde Boy George. Eine Skandalnudel wie dieser ist der gebürtige Israeli Hofesh Shechter nicht.

Der aufgeweckte Tänzer kam Anfang der Nullerjahre in die britische Hauptstadt und choreografierte erst 2003 sein erstes Stück. Heute nennt ihn die britische Presse "the biggest beast in British choreography". Er zählt zu einer Gruppe von 15 mit Sadler's Wells assoziierten Künstlern, von denen nur drei - Sylvie Guillem, Kate Prince und Yasmin Vardimon - Frauen sind. Guillem gehört mit Akram Khan, Sidi Larbi Cherkaoui und Jonzi D zu den Zugpferden des Hauses, das nach eigenen Angaben 70 Prozent seines Budgets aus Kartenverkäufen lukriert. Mit kleinen, experimentellen Tanzformaten ist das nicht zu machen. Also zeigt und koproduziert Sadler's Wells vor allem Stücke für die große Bühne.

So eines ist Sun mit seinen 16 Tänzerinnen und Tänzern eindeutig. Leichtfüßige Unterhaltungsakrobatik bietet es trotzdem nicht. Im Gegenteil. Obwohl Shechter sich vorgenommen hatte, nach seinem düsteren Kracher Political Mother (der auch im Festspielhaus St. Pölten zu erleben war) diesmal etwas Leichteres zu zeigen, ist Sun alles andere als sonnig geworden: Kein Schönwetter-Inhalt, keine anheimelnde Musik und keine leichtgängige Struktur erwärmen, was Shechter seinen Zuschauern da kaltschnäuzig vor die Nasen knallt.

Teil davon ist ein durchaus abgründiger Sinn für Humor. So meldet sich der Choreograf, sobald die Lichter ausgegangen sind, mit einer freundlichen Ansage vor Beginn des eigentlichen Stücks. Wie sehr man sich über das Publikum freue und dass man nur das Beste geben wolle. Und gleich jetzt sei eine Szene aus dem Finale zu sehen - als Beweis dafür, dass am Ende "alles okay" sein werde. Zusatz: "Außerdem sind in der Produktion keine Tiere zu Schaden gekommen."

Raubtier mit allerlei Schafen

Tatsächlich wird eine kurze, übermäßig harmlos wirkende Passage vorweggenommen. Das bringt das Publikum zum Lachen und steigert zugleich die Spannung. Was folgt, ist nur durchwachsen witzig. Denn in Sun geht es recht unverhüllt um den historischen Kolonialismus und seine Weiterungen bis in unsere Gegenwart. Und um Schäfchen, die von Wölfen ins Trockene gebracht werden, weil sie dort am besten zu verspeisen sind. Dabei gibt es kaum explizite Darstellungen von Brutalität. Denn Sun ist insgesamt eine einzige Beschreibung der Ambivalenz, mit der das Prinzip Gewalt sich zwischen alle und alles schieben kann, wie ein Kitt, der dort trennt und da zusammenhält. Genau das sollen Shechters Tänzer auch zeigen.

Zu spüren ist dieses Gewaltprinzip vor allem in der wuchtigen Musik. Was mit einer dudelsackfrohen, nationalstolzen Hymne beginnt, kippt sehr bald in wiederkehrende wüste Klangausbrüche. In Perkussionssalven und in wummernden Rock, die einmal mit Barockmusik, ein anderes Mal mit der Stimme von Sammy Davis Jr. unterlegt sind oder in Wagners Tannhäuser übergehen. Dramaturgisch nutzt Shechter effektvolle Abfolgen von Blackouts, um kurze Bildszenen hintereinanderzusetzen. Wiederholt lässt er das Grüppchen auf der Bühne durch eine Führerfigur aufmischen. Eine Figur, die später zunehmend Ordnung schafft.

Immer wieder werden von den Tänzern Bilder von Schafen, einem Wolf, einem indigenen Speerträger und einer historischen Kolonialherrengestalt umhergetragen und miteinander kombiniert. Ab und zu mischt sich das Bild einer Gestalt mit Kapuzenshirt darunter: offenbar eine Erinnerung an die Londoner Unruhen von 2011. Gegen Ende ruft ein Harlekin warnend ins Publikum: "The wolf is behind you!" Dass danach ein Gehenkter als Stoffpuppe von der Decke fallen muss, ist zu viel des Aufruhrs. Und dass Shechter während des Applauses ein Bild von sich selbst zur Verbeugung bringt, verblödelt die irrwitzige Absurdität im Stück noch in letzter Sekunde. (Helmut Ploebst, DER STANDARD, 2./3.11.2013)