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Friederike Mayröcker, bis 1969 Schullehrerin, seither die "Grande Dame" der deutschsprachigen Poesie. 2001 erhielt sie den Georg-Büchner-Preis. 

Foto: APA/HERBERT NEUBAUER

Wien - Eine Autorin könnte es im 89. Jahr ihres Lebens auch gut sein lassen. Man dürfte sich von ihr vielleicht noch ein paar nachträgliche Zeilen wünschen. Verlautbarungen, denen Zeit und Zeitlichkeit nichts mehr anhaben können. Die Wiener Dichterin Friederike Mayröcker wird im Dezember 89 Jahre alt. Erwartungen wie die obig geäußerten müssten sie kränken und befremden. Ihr neues, soeben erschienenes Buch heißt études. "Etüden", weil Mayröcker das Schreiben offenbar noch einmal neu erlernen will.

études ist aber auch kein Notizheft. Man wüsste noch nicht einmal zu sagen, ob das Buch gattungstechnisch eher der Lyrik oder der Prosa zugehört. Jeder Eintrag umfasst etwa eine Seite, und jede der Seiten ist am Ende gewissenhaft datiert. "22.12.10" steht unter der ersten Eintragung, die obendrein in faksimilierter Handschrift abgedruckt ist. Zur Ruhe kommt der Sprachsturm der études rund zwei Jahre später: "16.12.12". Mit diesem Hinweis schließt der radikalste Text, den der Suhrkamp-Verlag seit Oswald Eggers monumentalem Gedichtband Die ganze Zeit (2010) veröffentlicht hat.

Mit Mayröckers Poesie ist auf der Ebene des Inhalts kein Staat zu machen. Die Wienerin ist Anti- erzählerin. Ihr Ton besitzt die Musikalität einer Litanei. Aus kleinsten Partikeln und Fundstücken webt die Dichterin Muster, die dem Flüchtigen Dauer verleihen.

"die errötende Blume : mein Geschwisterchen Sprache am Morgen", heißt es am "16.3.11". Die Sprache ist den Autorinnen und Autoren der klassischen Avantgarde das Mittel der Unverfügbarkeit. Man darf Mayröcker nicht nur wegen ihres reifen Alters der Avantgarde zuschlagen. An ihrem Schreiben lassen sich wichtige Kennzeichen der "experimentellen" Haltung darlegen. Die Sprache ist das Mittel zur unscharfen Bestimmung der Welt. Die Art, mit der Mayröcker über sie gebietet, erzeugt herrlichsten Reichtum.

Beschwörungslitaneien

Zugleich steckt das Feld sprachschöpferischer Tätigkeit voller Minen. Die Verknüpfung von Sprachzeichen gehorcht Gesetzen, die das Verständnis garantieren. Mayröcker möchte mehr. Sie beschwört die Dinge, nennt sie beim Namen, packt sie an und reißt sie mit sich fort. Es wimmelt in études von Hyazinthen, Glyzinien, von Schneeglöckchen und "Weiszdornbüschen" (nur in dieser Schreibung). Man steht wie betäubt unter dem Eindruck dieses Blumengewitters.

Natürlich pflückt Mayröcker nicht bloß die einheimischen Wiesen leer. Die langjährige Lebensgefährtin des 2000 verstorbenen Ernst Jandl schließt potenziell die ganze Welt in ihre Litanei ein. Es liegt an der Dichterin, achtsam zu sein. Sie liest Gegenstände auf, wie um sie vor dem Tod zu erretten. Ihre Tätigkeit ist reine Magie. Der Zauber des Benennens besitzt universalpoetischen Anspruch. Friederike Mayröcker ist die Schwester des Königs Midas, der alle Dinge, die er berührt, in reines Gold verwandelt.

Die Stürme der Poesie sind aber auch Verlustanzeigen. Die Dichterin ist das Gefäß ihrer Eingebungen. Tag und Nacht hält sie sich bereit, Wörter einzusammeln: "das Zucken der Lider Liebster der Vögelchen offene / Schnäbel Schädel morgen wie's mundet, schnäbelnd um einen / blühenden Ast (...)". Erst die fortgesetzte Lektüre von études lässt die Umrisse eines Lebens hervortreten, das "tränenreich" geführt wird. Kehrseite der Poesie ist die Entbehrung.

Neu in Mayröckers Schreiben ist die Hast, mit der sich die Autorin gegen den Tod zur Wehr setzt. Man könnte anhand der études eine Theorie der (Angst-)Blüte entwickeln. Man hätte das Bild einer Natur zur Hand, die im Moment ihrer Beschwörung schon nicht mehr lebt. Zugleich spricht aus den Prosagebeten der Friederike Mayröcker eine Zuversicht, die religiös gefärbt ist. "Herr Jesu Christ", "Wunder des hl.Dorns" (sic!) heißen die dazugehörigen Formeln. Und apropos Inhalt: Mit Peter Handke hat sie einmal "zu ital. Musik" getanzt. Sage noch einer, die wunderbare Friederike Mayröcker könne nicht kess sein. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 2./3.11.2013)