Schriftstellerin Renate Welsh hat auch Günther Krippel zum Schreiben animiert. Er war sieben Jahre auf der Straße und lebt nun in der Vinzirast im zwölften Wiener Gemeindebezirk.

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Standard: Herr Krippel, haben Sie jemals gedacht, dass Schreiben Ihre Leidenschaft werden könnte?

Günther Krippel: Es ist eine gute Abwechslung, nicht nur das Schreiben. Auch die Kommunikation, die Themen und der Austausch mit anderen Obdachlosen. Renate gibt uns meistens die Themen vor: kalt, warm, Winter, Angst, Sonne.

Standard: Oder Brücken. Im Buch "Mit einem Buch auf zwei Beinen stehen", das kommende Woche erscheinen wird, steht ein Satz, den eine Frau mit dem Begriff assoziiert: "Es ist lustig, mit Fahrschein zu fahren."

Renate Welsh: Die Vorstellung, mit einem Fahrschein über eine Brücke zu fahren sei etwas Besonderes, hat mich sehr betroffen gemacht. Es ist ein Luxus, nicht Angst haben zu müssen, dass ein Kontrolleur kommt. Man zahlt ja ungeheuer viel, wenn man gestraft wird.

Krippel: Hundertdrei Euro.

Standard: Wie sind Sie dazu gekommen, mit Obdachlosen zu arbeiten?

Welsh: Sehr viele meiner Bücher haben sich mit Menschen, die in irgendeiner Form am Rand stehen, befasst. Aber es ist eigentlich eine Form von Hochmut zu glauben, man könnte immer ein Sprachrohr sein für die, die nicht sprechen. Ich wollte anderen Mut zur eigenen Sprache machen. Cecily Corti hat mich in die Vinzirast eingeladen. Jede Schreibwerkstatt ist ein Fenster in eine andere Welt.

Standard: Haben Sie auch etwas zurückbekommen?

Welsh: Eine Frau hat mir den Satz geschenkt: Du machst Fenster auf, wo es gar keine gibt. Ist das nicht ein unglaubliches Geschenk?

Standard: Was haben Sie gelernt?

Krippel: Wie man besser mit Menschen umgeht, wie man manche Dinge anders sieht. Ich war sieben Jahre auf der Straße.

Standard: Sie schreiben nun über Ihre Vergangenheit, Ihre Kindheit. Ist das Schreiben wichtig, um die Vergangenheit aufzuarbeiten?

Krippel: Ja, aber man kann nicht alles aufschreiben. Es sind Sachen passiert, die nicht schreibreif sind, schlimme Sachen, die möchte ich nicht zu Papier bringen.

Standard: In der Stadt wird gerade viel über Obdachlose diskutiert.

Krippel: Die Strafen, die die Obdachlosen zahlen müssen – das finde ich nicht gut.

Standard: Ist es heute härter, obdachlos zu sein?

Krippel: Man muss unterscheiden: Geniere ich mich, wo hinzugehen? Bin ich mir zu fein? Oder nehme ich die Angebote in Anspruch? Es gibt so viele Institutionen in Wien, wo ich mich duschen kann, wo ich meine Ruhe habe. Wo ich sogar Geld und Essen bekomme. Das ist irgendwie schön. Aber dann gibt es Leute wie mich. Ich wollte einfach nicht mehr. Ich war so angefressen auf alles. Ich habe mir gesagt: Die Donauinsel gehört mir! Dort habe ich dann gelebt. Wissen Sie, dass es dort Rehe gibt?

Standard: Frau Welsh, was sagen Sie dazu, dass Obdachlose heute vermehrt bestraft werden?

Welsh: Das ist eine Bankrotterklärung unserer Gesellschaft.

Krippel: Man darf nicht vergessen: Es waren gerade Neuwahlen. Jetzt werden die Karten neu gemischt. Der Franz Küberl (Caritas-Präsident, Anm.) ist zurückgetreten. Warum?

Standard: Ihre Schreibwerkstatt besuchen auch Obdachlose, die Deutsch nicht als Muttersprache habe. Bemerken Sie einen Anstieg?

Welsh: Ja. Es gibt verschiedene Einrichtungen, wo nur Österreicher genommen werden. Dadurch, dass in der Vinzirast jeder bleiben darf, summiert es sich.

Krippel: Ich finde das nicht richtig. Warum soll einer, der aus einem anderen Land kommt, nicht genommen werden?

Standard: In Ungarn ist Obdachlosigkeit per Gesetz verboten.

Welsh: Gerade in Mitteleuropa müsste man doch wissen, wohin das Ausgrenzen einzelner Gruppen führt.

Standard: Bemerken Sie, dass mehr Ungarn da sind?

Krippel: Ja, am Westbahnhof. Da treffen sich jeden Tag dreißig, vierzig Leute. Die haben einen festen Plan, wo sie hingehen: Dort gibt es Essen, da gibt es Kleidung.

Standard: Ist die Stadt überfordert?

Welsh: Ich habe ganz arg das Gefühl, dass bei den politischen Parteien die Angst vor Strache eine größere Rolle spielt als die eigenen Grundsätze. Die einfachste Methode, auf das Problem zu reagieren, ist, einen Sündenbock zu suchen und auf die Schwächsten loszugehen. Dadurch erübrigt sich auch die weit mühevollere Suche nach Ursachen. In dem Augenblick, in dem du anfängst andere auszusondern, hast du dich selbst eingesperrt. (Rosa Winkler-Hermaden, DER STANDARD, 2.11.2013)