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Die älteste und immer noch wichtigste Denkschule der internationalen Beziehungen ist der Realismus. Und ihre zentrale Theorie ist die des Gleichgewichts der Macht: In einer anarchischen Welt herrscht nur dann Stabilität und Frieden, wenn sich ungefähr gleich mächtige Staaten oder Staatengruppen gegenüberstehen; denn dann hat keiner einen starken Anreiz, den anderen anzugreifen.
Und wenn ein Staat an Macht gewinnt, dann schließen nach dieser Theorie sich die anderen gegen ihn zusammen, um seine Dominanz zu brechen. Aber ist das wirklich so? Sind nicht schwächere Staaten dazu geneigt, sich dem stärkeren anzuschließen – also „Bandwagoning" statt „Balancing" zu betreiben, wie das auf Englisch heißt?
Im Normalfall nein, sagen die Realisten. Denn wer sich in die Obhut einer starken Macht begibt, der riskiert immer, in dessen Abhängigkeit zu geraten und wird am Ende ausgenützt und ausgebeutet. Das war bereits im attischen Seebund so, den der griechische Historiker Thukydides, der Vater der Schule des Realismus, vor 2500 Jahren beschrieb. Und das gleiche gilt noch heute.
Ukraine bestätigt die Theorie
Wer einen aktuelle Bestätigung für die Relevanz des Gleichgewichts der Macht sucht, der muss nur zur Ukraine schauen. Gegen alle Überzeugungen und traditionellen Bindungen hat sich die Regierung von Präsident Wiktor Janukowitsch dazu entschlossen, die Integration mit der EU statt mit Russland und dessen neuer Zollunion zu suchen.
Das ist deshalb überraschend, weil Janukowitsch einst der pro-russische Kandidat war und seine Machtbasis im russisch-sprachigen Osten hat. Und dennoch sind er und seine Clique von Oligarchen zum Schluss gekommen, dass sie von Russland nie als vollwertiger Partner und immer nur als eine Art Kolonie behandelt werden würden.
Und wenn es dafür noch eines Beweises gebraucht hätte, dann erbringt den der russische Präsident Wladimir Putin dieser Tage mit seinen wüsten Drohungen gegen die Regierung in Kiew, sollte sie das EU-Assoziierungsabkommen tatsächlich Ende November in Vilnius unterzeichnen.
Timoschenko als Stolperstein
Noch ist die Sache nicht entschieden. Janukowitsch muss erst seine Erzfeindin Julia Timoschenko freilassen – ein Schritt, der ihm offensichtlich schwer fällt. Das zeigt, wie weit er und seine Leute von westlichen demokratischen Standards entfernt sind.
Die EU stellt harte Bedingungen, und dies zurecht. Denn Kiew macht den Europäern mit der Unterschrift keinen Gefallen, sondern verfolgt nationale Interessen.
Und vielleicht zeigen die russischen Drohungen, Erdgaslieferungen zu kappen und ukrainische Exporte mit hohen Zöllen zu belegen, am Ende doch noch Wirkung. Die Ukraine mit ihrem riesigen Energiehunger ist knapp vor dem Winter besonders verwundbar.
Moskau bleibt Bedrohung
Aber sehr wahrscheinlich ist es nicht, dass Janukowitsch einknickt. Denn gibt er Putin jetzt nach, dann ist es mit der tatsächlichen Unabhängigkeit der Ukraine vorbei. Unabhängig von wer in Moskau oder Kiew regiert – Russland bleibt für seinen kleineren Nachbarn immer eine Bedrohung und braucht äußere Verbündete, um seine Souveränität zu bewahren. Da ist selbst die angeblich schwache EU besser als ein – zumindest in seiner eigenen Region – starkes Russland.
Das hätte schon Thukydides vorausgesagt - und hätte wohl auch Recht behalten. (Eric Frey, derStandard.at, 3.11.2013)