"Es gibt keine neutralen, öffentlichen Orte mehr, an denen nicht konsumiert werden muss und an denen man nicht überwacht wird": Clemens Jabloner.

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"Wir brauchen europäische Parteien."

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"Zunehmend kommt es dazu, dass die Inhalte gar nicht mehr von der Ministerialbürokratie, sondern von dritter Seite geliefert werden, von law firms, Vereinen, Lobbyisten, das kann manchmal bis zur Korruption gehen."

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"Wenn wir weiterhin Menschen im Meer ertrinken oder sie von einer Mauer abprallen lassen, dann spiegelt sich dieser Umgang irgendwann auch im Inneren wieder."

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In Österreich seien Gesetzestexte oft von schlechter Qualität, sagt der scheidende Präsident des Verwaltungsgerichtshofs (VwGH), Clemens Jabloner. Die Politiker seien häufig unentschlossen – der "scharfe Druck der Tagespolitik" und der Medienberater führe dazu, dass Politiker "immer weniger zu grundsätzlichen Überlegungen kommen". Ein Gespräch über gefährliche Machtauswüchse, unideologische Parteien und die Konsequenzen aus Lampedusa.

derStandard.at: Die österreichische Innenpolitik ist weniger berechenbar geworden – man denke an die Turbulenzen im Team Stronach, an Monika Lindner. Gut so?

Jabloner: Ob Frau Lindner ein Nationalratsmandat ausübt oder nicht, erscheint mir nicht besonders wichtig. Unsere Demokratie hat mit anderen Problemen zu kämpfen.

derStandard.at: Und zwar?

Jabloner: Ein großer Teil unserer Rechtsordnung wird heute von den europäischen Instanzen erzeugt. Wir brauchen europäische Parteien. Wir dürfen nicht so tun, als ob die von unseren Parteien entsandten Abgeordneten im Europäischen Parlament allein die Aufgabe hätten, österreichische Interessen zu wahren, hier geht es um Fragen, die die ganze Union betreffen. Außerdem wäre der europäische Rechtsetzungsprozess selbst stärker zu parlamentarisieren.

derStandard.at: Und auf nationaler Ebene?

Jabloner: Es wird oft beklagt, dass der Inhalt der Gesetze von den Ministerien bestimmt wird. Verfassungsrechtlich ist das aber so vorgesehen, weil es eben unter anderem Vorlagen der Regierung sind, die die Gesetzgebung in Gang setzen. Das ändert aber nichts daran, dass der entscheidende Willensakt vom Nationalrat gesetzt wird. In der politischen Realität stehen wir aber schon woanders: Zunehmend kommt es dazu, dass die Inhalte gar nicht mehr von der Ministerialbürokratie, sondern von dritter Seite geliefert werden, von law firms, Vereinen, Lobbyisten, das kann manchmal bis zur Korruption gehen. Die Außeneinflüsse steigen, die Fachapparate der Ministerien werden schwächer, der Staat beraubt sich seiner Intelligenz. Das halte ich für ein demokratiepolitisches Problem.

derStandard.at: Wie oft ist es Ihnen in den letzten 20 Jahren passiert, dass Sie sich über ein Gesetz ärgerten, weil es von minderer Qualität war?

Jabloner: Manchmal haben Gesetze einen diffusen Kompromisscharakter, denken Sie an das Rauchverbot in Lokalen – der VwGH muss solchen Regelungen dann zwangsläufig einen bestimmten Gehalt geben. Der Gesetzgeber sollte einen deutlicheren Willen zeigen.

derStandard.at: Die österreichische Verfassung ist stark zersplittert – auch deshalb, weil Rot und Schwarz mit ihrer jahrelangen Zweidrittelmehrheit im Nationalrat haufenweise Gesetze in den Verfassungsrang gehoben haben. Ist es also ein Segen für die österreichische Demokratie, dass die ehemaligen Großparteien geschrumpft sind?

Jabloner: Verfassungsästhetik steht für mich nicht im Vordergrund. Die Verfassung sieht ja vor, dass Verfassungsbestimmungen in einfachen Gesetzen erzeugt werden können, und dass der Nationalrat diese Möglichkeit in Anspruch nimmt, ist nicht zu beanstanden. Problematisch ist eher, dass zu viel davon den Spielraum des einfachen Gesetzgebers einengt. Die Rechtslage wird dann gleichsam einzementiert, siehe Ungarn. So gesehen ist es besser, wenn die Verfassungsmehrheit nicht so leicht in Griffweite ist.

derStandard.at: Apropos Verfassung: Hat der Bundespräsident in der österreichischen Verfassung zu viel Macht?

Jabloner: Er hat scharfe Zuständigkeiten, die nicht unproblematisch sind, doch hat sich die Institution Bundespräsident sehr bewährt: Er ist ein Organ mit unmittelbarer demokratischer Legitimation, in der Zweiten Republik hat sich das stets positiv ausgewirkt, eigentlich überraschenderweise.

derStandard.at: Warum überraschenderweise?

Jabloner: Der Präsident war ja 1929 in einem durchaus präfaschistischen Sinn installiert – er sollte gegen die Sozialdemokratie, antiparlamentarisch wirken. Dazu kam es aber nicht, weil das Präsidentenamt zwar die Kompetenzen erhielt, aber letztlich kein Präsident gewählt wurde. Die Wahlen hat man erst in der Zweiten Republik durchgeführt und dann wurden Bundespräsidenten gewählt, die durchwegs staatsverbunden waren und nicht etwa den Staat berlusconimäßig von außen angegriffen haben. Es sieht so aus, als würde das in absehbarer Zeit auch so bleiben.

derStandard.at: Es könnte sich aber auch ändern.

Jabloner: Sollte sich das ändern, wird es tatsächlich gefährlich, wenn gleichzeitig die plebiszitäre Demokratie zu sehr erweitert wird. Niemand weiß, wie die Innenpolitik in 15 Jahren aussehen wird.

derStandard.at: Was könnte schlimmstenfalls passieren?

Jabloner: Das Parlament könnte in die Zange genommen werden, wenn sich der Bundespräsident mit plebiszitären Tendenzen verbündet, wenn er den Nationalrat unter Druck setzt und ihn durch die Androhung, ihn sonst aufzulösen, zwingt, das Ergebnis einer Volksbefragung umzusetzen. Diese mögliche Eigendynamik halte ich für gefährlich.

derStandard.at: Auch ohne verpflichtende Volksabstimmungen wäre es in 15 Jahren möglich, dass wir einen Präsidenten haben, der seine Macht weniger zurückhaltend ausübt als das bisher der Fall war.

Jabloner: Der Bundespräsident allein kann zwar nicht mehr tun als letztlich Neuwahlen zu provozieren, aber sollte er sich selbst an die Spitze einer plebiszitären Bewegung setzen, hätten wir ein Problem – denn auf diese Weise könnten wir in einen autoritären Staat abgleiten.

derStandard.at: Es scheint derzeit schick zu sein, sich als unideologisch zu bezeichnen. Manche, unter anderem auch die Neos, verwenden es als Synonym für "lösungsorientiert" oder "pragmatisch".

Jabloner: Das ist selbst Ausdruck einer Ideologie. In der Politik werden Werte vertreten, das ist ja die Aufgabe der politischen Parteien. Und in diesem Sinn sind die Neos so ideologisch wie alle Parteien. Es ist eine Illusion zu meinen, dass sich die Probleme aus sich heraus, durch rein vernünftige Einsicht lösen lassen. Irgendjemand muss ja etwas wollen in diesem Staat.

derStandard.at: Vielleicht "wollen" die Parteien einfach weniger als früher?

Jabloner: Ja, und das ist ein Fehler. Gut wäre es, wenn das politische Spiel von relativ klaren Standpunkten bestimmt wäre und von Politikern, die sagen, dass sie in diese oder jene Richtung wollen – denn so funktioniert ja Demokratie. Die führenden Politiker stehen allerdings unter dem scharfen Druck der Tagespolitik, der Medien und sind ständig mit Meinungsumfragen rückgekoppelt und von Medienberatern gesteuert. Das hat dann wohl zur Folge, dass sie immer weniger zu grundsätzlichen Überlegungen kommen.

derStandard.at: Sie haben einmal kritisiert, dass es eine "merkwürdige Schere zwischen europäischer Freizügigkeit und der Enge des öffentlichen Raumes" gebe – wie frei können wir uns bewegen?

Jabloner: Man kommt zwar überall hin, aber nirgends hinein. Ein Grund dafür ist, dass scheinbar öffentliche Flächen einem privaten Zweck zugeführt werden – zum Beispiel Bahnhöfe, Einkaufszentren oder "gated communities". Es gibt keine neutralen, öffentlichen Orte mehr, an denen nicht konsumiert werden muss und an denen man nicht überwacht wird. Den flanierenden Passanten, der sich mit einer gewissen Distanz in die Öffentlichkeit stellt und beobachtet, den gibt es nicht mehr, die Trennung zwischen Privatheit und Öffentlich wird aufgehoben. Das zeigt auch die zunehmende Überwachung der öffentlichen Orte. Die Anonymität in der Öffentlichkeit schützt ja auch die Privatheit. Bedenklich ist auch das abnehmende Verständnis für die geheime Stimmabgabe, die aber für die Demokratie essentiell ist. Diese Vermischung von Privatem und Öffentlichem wird auch durch sozialen Medien vorangetrieben: Auf Facebook ist man quasi privat-öffentlich. Das sind abstrakte Problemstellungen, aber mir erscheinen sie sehr relevant.

derStandard.at: Die Bootsflüchtlinge aus Afrika kommen nicht nur nirgends hinein, sondern auch nicht überall hin. Was sind die Lehren aus den vielen Bootstragödien vor Europas Küsten?

Jabloner: Das ist ein ernstes Problem, das wir jedenfalls nicht lösen werden, indem wir einzelne Schuldige identifizieren, beispielsweise die Schlepper. Wir brauchen ein Modell für die Zukunft, das auf verschiedenen Ebenen ansetzt. Wenn wir weiterhin Menschen im Meer ertrinken oder sie von einer Mauer abprallen lassen, dann spiegelt sich dieser Umgang irgendwann auch im Inneren wieder.

derStandard.at: Inwiefern spüren wir das auch innerhalb der Schengengrenzen?

Jabloner: Ich glaube, dass sich die Unterscheidung zwischen außen und innen auf Dauer nicht aufrechterhalten lässt und wir in ein polizeistaatliches System abgleiten.

Ich bin weit davon entfernt, ein Rezept für das Flüchtlingsproblem zu haben. Es ist wohl ein Bündel an Maßnahmen notwendig – angefangen bei einer geregelten Zuwanderung, Maßnahmen in den Herkunftsländern, eine Kontrolle der Waffentransporte in Konfliktgebiete, etwa nach Somalia und Eritrea. Ich habe die Ferien in Italien verbracht und dort immer wieder Afrikaner gesehen, die es geschafft haben, auf den Stiefel zu kommen. Diese Männer verkaufen dann Sachen auf den Stränden oder in Lokalen, aber viele taumeln einfach umher, wie Gespenster. Rundherum sind Italiener und Touristen, die auf der Straße ihren Geschäften nachgehen, lachen, streiten – und dann diese Männer. Das Erschütternde daran ist, dass dies jene sind, die es unter schwierigsten Bedingungen überhaupt geschafft haben, aufs Festland zu kommen. Dass sie hier eine Art Geisterleben führen, ist kein akzeptabler Zustand. (Maria Sterkl, derStandard.at, 3.11.2013)