Leipzig/Gießen/Zürich - Ein internationales Forscherteam unter der Leitung des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, der Universität Gießen und der Universität Zürich hat einen neuen Sprachatlas mitsamt Datenbank zu den wichtigsten Struktureigenschaften von Mischsprachen aus Süd- und Nordamerika, Afrika und dem asiatisch-pazifischem Raum veröffentlicht. Mehr als 80 Sprachspezialisten arbeiteten an dem bisher einmaligen Projekt in der vergleichenden Linguistik.

Entstanden sind die betreffenden Mischsprachen gr0ßteils aus Kontakten zwischen europäischen Händlern und Kolonisten auf der einen Seite und indigenen Völkern und Sklaven aus Afrika auf der anderen Seite. Der "Atlas of Pidgin and Creole Language Structure", der bei Oxford University Press und als freie Online-Publikation veröffentlicht wurde, gibt detaillierte Vergleichsdaten zu den syntaktischen und phonologischen Strukturen von 76 Kontaktsprachen.

Während die meisten dieser Sprachen das Vokabular aus den Sprachen der europäischen und auch arabischen Kolonisatoren übernommen haben, lassen sich ihre grammatischen Strukturen oft auf afrikanische und pazifische Sprachen zurückführen. Diese Tendenz zeigt der Atlas deutlicher als je zuvor.

Auffallend ähnliche Grammatik

Das Leipziger Forscherteam leitete ein Konsortium von Spezialisten zu 76 Kreolsprachen, Pidginsprachen und anderen aus intensiven Kontaktsituationen entstandenen Mischsprachen. "Gute Kenner von wenig erforschten Sprachen arbeiten oft in Isolation, aber um ein umfassendes Bild zu bekommen, mussten wir ihr Wissen zusammenführen und größere vergleichbare Datenmengen sammeln", erklärt Susanne Maria Michaelis vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie.

Sie und ihre Kollegen koordinierten über mehrere Jahre hinweg Sprachexperten zu 25 Sprachen der westlichen Hemisphäre, 25 afrikanischen Sprachen und 26 asiatisch-pazifischen Sprachen. Das Ergebnis ist ein Atlas mit 130 Weltkarten, auf dem die Verteilung verschiedener grammatischer Merkmale zu sehen ist, sowie zwei Dutzend Karten mit soziolinguistischen Informationen und weiteren kartographischen Darstellungen verwendeter Lautinventare.

Viele der Karten zeigen auffallende Ähnlichkeiten zwischen karibischen Sprachen wie Jamaika-Kreol oder Haiti-Kreol und den afrikanischen Sprachen der Sklaven, die seit dem 17. Jahrhundert von den Kolonisatoren zur Arbeit auf den Plantagen gezwungen wurden. Da die meisten Sklaven in den Kolonien der Karibik und den amerikanischen Südstaaten aus Afrika kamen, ähneln die karibischen Sprachen den westafrikanischen Sprachen in vielerlei Hinsicht. "Man erkennt das nicht auf den ersten Blick an den Wörtern, die meistens wie im Spanischen, Französischen oder Englischen klingen", sagt Philippe Maurer von der Universität Zürich. "Aber wenn wir uns zum Beispiel die grammatischen Muster genauer anschauen, die Zeitverhältnisse am Verb ausdrücken, werden wir direkt zu afrikanischen und asiatischen Vorbildern geführt." 

Das Jamaikanische etwa verlangt für die Vergangenheit eines Handlungsverbs keine eigene Zeitangabe, im Gegensatz zum Englischen, erklärt Maurer. "Die Männer gruben das Loch" heißt „Di man-dem dig di huol" (vgl. Englisch: „The men dug the hole"). Nach diesem Muster funktioniere das auch in vielen westafrikanischen Sprachen. Einige Spuren afrikanischer Grammatik finden sich auch im afroamerikanischen Englisch in den USA.

"Man sieht den Einfluss der indigenen Sprachen ebenso in Asien und im Pazifik, also in Sprachen, die von der traditionellen Kreolistik oft vernachlässigt wurden", sagt die Linguistin Susanne Maria Michaelis. Im portugiesischen Kreol von Sri Lanka etwa sage man nicht "Ich mag es" wie im Portugiesischen, sondern "Mir gefällt es", wie typischerweise in südasiatischen Sprachen.

Systematische Datengrundlage

"Grammatische Strukturen können in bestimmten Fällen ältere historische Gegebenheiten bewahren und uns als Fenster in die Vergangenheit dienen, aber sie sind nicht leicht über die Sprachen hinweg zu vergleichen", sagt Martin Haspelmath vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. Eine der größten Herausforderungen sei es gewesen, Vergleichsbegriffe zu finden, mit denen Sprachexperten aus verschiedenen Forschungstraditionen ihre äußerst vielfältigen Sprachen auf einen gemeinsamen Nenner bringen konnten.

Einzelne Ähnlichkeiten zwischen afrikanischen Sprachen und den von den Nachfahren der Sklaven gesprochenen Mischsprachen wurden schon in der Vergangenheit beobachtet. Der "Atlas of Pidgin and Creole Language Structures" biete nun eine systematische Datengrundlage für eine große Bandbreite von grammatischen Strukturen, so die Wissenschafter.  (red, derStandard.at, 4.11.2013)