"In den 90er-Jahren war Russisch aus dem Curriculum verschwunden, man konzentrierte sich auf andere Fremdsprachen, Englisch, Deutsch, Französisch."

Foto: Mascha Dabić

Während es zu Sowjetzeiten in Litauen noch selbstverständlich war, Russisch als Lingua franca zu sprechen, kam die Sprache in den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts zusehends aus dem Gebrauch. Seit einigen Jahren erlebt die russische Sprache jedoch ein Comeback unter Schülern. Was es damit auf sich hat, erklärt die Soziolinguistin Ineta Dabašinskienė, Dekanin der Geisteswissenschaftlichen Fakultät an der Vytautas-Magnus-Universität in Kaunas, der zweitgrößten Stadt Litauens.

daStandard.at: In der Sowjetunion fungierte Russisch als die Verkehrssprache. Wie sieht es heute mit den Russischkenntnissen in Litauen aus?

Ineta Dabašinskienė: In der Generation 40 plus sprechen alle noch Russisch als Zweitsprache. Die Jüngeren sprechen es, wenn sie es in der Schule oder an der Universität als Fremdsprache gelernt haben.

daStandard.at: Und sind das viele?

Dabašinskienė: In der Gruppe der Schüler, ja. Rund 87 Prozent  der Schulkinder wählen Russisch als zweite Fremdsprache.

daStandard.at: Das ist doch überraschend. Ich hätte eher erwartet, dass Russischlernen der Vergangenheit angehört.

Dabašinskienė: Ja, für uns ist es auch überraschend. In den 90er-Jahren war Russisch nämlich aus dem Curriculum verschwunden, man konzentrierte sich auf andere Fremdsprachen, Englisch, Deutsch, Französisch. Seit etwa acht Jahren können Schüler jedoch Russisch als zweite Fremdsprache wählen. Seitdem beobachten wir einen rasanten Anstieg des Russischen, was auch zulasten der anderen Sprachen geht. Das kann man auf unterschiedliche Weise interpretieren.

daStandard.at: Hat es mit Nostalgie zu tun? Wird damit die Sowjetzeit wieder heraufbeschworen?

Dabašinskienė: Nein, das denke ich nicht. Es geht eher um fehlendes Bewusstsein. Die Menschen haben Stereotypen im Kopf, sie glauben, es ist unbedingt notwendig, Russisch zu sprechen, weil Russland unser großes Nachbarland ist und weil es Handelsbeziehungen gibt. Die Eltern fürchten, ihre Kinder könnten ohne Russisch später keine Arbeit finden. Das stimmt aber nicht so ganz. Ich habe eine kleine Studie über Jobanzeigen durchgeführt und herausgefunden, dass Russisch nicht viel öfter angefragt wird als Englisch. Wenn jedoch 87 Prozent  der Schüler Russisch als zweite Fremdsprache lernen, ist das Gleichgewicht nicht gegeben, es gibt keine ausgeprägte sprachliche Diversität mehr.

daStandard.at: Sie meinen, es entsteht eine Blase?

Dabašinskienė: Genau. Die Einschätzung, Kinder müssten unbedingt Russisch lernen, um später einen Job zu bekommen, basiert nicht auf den realen Anforderungen des Arbeitsmarktes.

Andere Verfechter des Russischen als zweite Fremdsprache in der Schule argumentieren mit der russischen Kultur und Literatur. Aber wenn ich sie frage, wie oft sie nach Russland reisen, dann antworten sie "nie", und wenn ich sie frage, ob sie Dostojewski und Tschechow im Original lesen, dann fällt die Antwort ebenfalls negativ aus.

Natürlich bin ich dafür, dass man jede Fremdsprache schätzt, und ich selbst spreche Russisch und bin sehr froh darüber. Es geht jedoch um die Balance. Es ist problematisch, dass Russisch eine dominierende Rolle einnimmt.

daStandard.at: Denken Sie, da steckt eine politische Strategie Russlands dahinter?

Dabašinskienė: Das ist ganz bestimmt eine von den Ursachen. Russland betreibt eine subtile Propaganda, auf mehreren Ebenen, auch in den Bereichen Kunst und Kultur. Im letzten Jahr hat Russland sein Budget für die Verbreitung der russischen Sprache im Ausland verdreifacht. Das hat etwas zu bedeuten. Es ist kein Geheimnis, dass Russland ein Interesse daran hat, die baltischen Staaten weiterhin unter Kontrolle zu behalten, im Sinne einer Einflusssphäre.

daStandard.at: Wenn Kinder und Eltern jedoch glauben, Russisch als Fremdsprache sei wichtig, dann kann man doch dagegen nicht viel einwenden, oder?

Dabašinskienė: Als zweite Fremdsprache in Schulen ist Russisch nicht sehr gut geeignet. Es ist eine sehr komplexe Sprache, mit einer anderen Schrift und eignet sich eigentlich besser als Zweitsprache oder als Studienfach. Die Eltern gehen häufig mit dem Mainstream mit und hinterfragen die stereotypen Vorstellungen von der Wichtigkeit von Sprachen oft nicht. Wenn es aber für Sprachen wie Deutsch oder Französisch plötzlich sehr wenig Nachfrage gibt, verschwindet diese Sprache aus dem schulischen Angebot, und das Stereotyp verfestigt sich. Die Eltern sind jedoch als Gruppe sehr einflussreich, sie können auf die Politik Einfluss nehmen. Wenn ich mit Eltern spreche und sie auffordere, sich wirklich Gedanken über die Fremdsprachen zu machen, dann sehen sie meistens auch ein, dass Russisch nicht die einzige Option als zweite Fremdsprache ist. Wie gesagt, ich habe nichts gegen die russische Sprache, ganz im Gegenteil, aber es wäre gut, einen Mittelweg zu finden. (Mascha Dabić, 5.11.2013)