Joseph Roths (1894-1939) Buch über die Lebenswelt des Ostjudentums ist eine Verlustanzeige. Der rund hundertseitige Essay Juden auf Wanderschaft erschien 1927. Sein Autor war einer der bestbezahlten Journalisten seiner Zeit. Das Deutsch, das Roth schrieb, ist von der Klarheit reinen Gebirgswassers. Roths ungemein einprägsame Sprache rechnet nicht mit Applaus.

Den falschen versucht sie von vornherein abzuwehren. Sein Buch, schreibt der als Moses Joseph Roth in Brody (Galizien) Geborene, verzichte "auf den Beifall und die Zustimmung, aber auch auf den Widerspruch und sogar die Kritik derjenigen, welche die Ostjuden missachten, verachten, hassen und verfolgen". Da aber nahezu die ganze Welt die Juden in Osteuropa hasste, verachtete und verfolgte, lässt sich Juden auf Wanderschaft nur als Streitschrift verstehen.

Seine Hoffnung, beim Leser auf Verständnis zu stoßen, nennt Roth "töricht". Der Westeuropäer blickt auf den Schmutz der Juden im Osten herunter, weil er selbst mit dem Wasserklosett aufgewachsen ist. Der Stolz auf die eigene saubere Matratze verdrängt das Verständnis für das Leid, für die menschliche Größe der im Dreck Feststeckenden.

Roths Polemik richtet sich nicht so sehr gegen die Antisemiten, die jeder kennt. Die Judenhasser nennt er dumm. Er fühlt sich 1927 berechtigt, die Feinde "gestrig" und "im Modergeruch umherwandelnd" nennen zu dürfen. Die Katastrophe der NS-Herrschaft ist kaum zu erahnen. Was sich vor den Augen der Welt vollzieht, ist die stückweise Demontage der jüdischen Kultur, die in ihren Widersprüchen Jahrhunderte bitterer Erfahrung speichert. Auf "wissenschaftliche Sachlichkeit" wird der Roth-Leser keinen Anspruch erheben dürfen; sie nannte der Dichter langweilig. Die Lebenswelt des jüdischen Städtchens, des "Schtetls" (Plural: Schtetlech), ist ein Hort des Mangels. In Galizien, Wolhynien, den Gegenden der heutigen Westukraine und Weißrusslands, lebten die nach Tausenden zählenden jüdischen Gemeinden.

Die Masse ihrer Mitglieder ist auch nach 1918 arm. Viele Juden arbeiten als Hausierer oder Kleinkrämer. Sie sind Dienstleister. Proletarier gibt es kaum, auch weil die nichtjüdische Umwelt auf Konkurrenz am Arbeitsmarkt keinen Wert legt.

Wer kann, studiert in einem der Bethäuser. Manche fromme Männer leben von den Almosen, die ihnen die Gemeinde zusteckt. Religiös sind sie uneins. Strenge Orthodoxe finden sich neben "gemilderten". Wunderrabbis versammeln Gruppen von Chassidim hinter sich. Wieder andere lehnen einen Mittler zwischen sich und Gott strikt ab. Das Verhältnis der Juden zu ihrem Gott ist ein Rätsel: "Es (Anm.: das Volk) weiß, dass es gestraft werden kann, aber niemals verlassen."

Daneben finden sich noch die Zionisten. Sie erregen Roths Unwillen. Wer den Sabbat missachtet, um in Palästina Straßen zu bauen, der steht im Begriff, den Irrweg der Europäer zu wiederholen. Der "Fortschritt" ist das rote Tuch des Literaten. Es reicht, in den Westen auszuwandern. Die Schtetl-Bewohner werden Vorzeigepatrioten. Eine Welt, die aus Vaterländern besteht, opfert ihre Bürger unterschiedslos für materielle Interessen. Juden, die den Osten verlassen, assimilieren sich. Roth: "Sie haben kein ,Vaterland', die Juden, aber jedes Land, in dem sie wohnen und Steuern zahlen, verlangt von ihnen Patriotismus und Heldentod und wirft ihnen vor, dass sie nicht gerne sterben." Die Juden, die den Gott ihrer Väter verloren haben, sind ohne Trost.

Ihnen bleibt nur das "Wehe den Besiegten". Und doch wird die Vernichtungspolitik der Nazis alle Befürchtungen noch in den Schatten stellen. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 6.11.2013)